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Gütersloher Zeitung , 16.09.2005 :

(Rheda-Wiedenbrück) "Du sollst leben" / Sally Perel überlebte den Holocaust als "jüdischer Junge unter Todfeinden"

Von Marion Pokorra-Brockschmidt

Rheda-Wiedenbrück. Mucksmäuschenstill und tief bewegt lauschen die Einstein-Gymnasiasten Sally Perel. Der 80-Jährige überlebte den Holocaust "unter der Haut des Feindes", er war der "Hitlerjunge Salomon". "Mein Zeitzeugenbericht soll sich tief und fest in euren Seelen festsetzen und euch zum Auftrag werden", sagte Perel. Das schafft er leicht in nur zwei Stunden.

Im Nu hat er die Schüler der Jahrgangsstufen neun bis zwölf in seinen Bann gezogen – mit seiner sympathischen Persönlichkeit und dem Ungeheuerlichen, von dem er berichtet. Das Schicksal hatte dem Juden in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland einen unvorstellbaren Überlebensweg vorgegeben – "und ich musste ihn beschreiten".

Als die Wehrmacht ihn auf der Flucht stoppte, gab er sich als "Volksdeutscher Josef Perjell" aus – sie glaubte ihm. Vier Jahre lebte er als Jupp in der HJ-Schule in Braunschweig. "Das waren vier Ewigkeiten, weil ich jede Stunde mit der Angst lebte, entdeckt zu werden." Kraft gaben ihm die Abschiedsworte seiner Mutter: "Sally, mein Sohn, du sollst leben!"

Perel entwickelte einen Abwehrmechanismus, um existieren zu können. "Der Jude in mir musste verschwinden und Platz für den Hitlerjungen machen." Der 16-Jährige vereinte in sich "zwei sich tödlich gegenüber stehenden Seelen". Der Indoktrinierung der Nazis konnte selbst er sich nicht erwehren, er identifizierte sich mit ihr. Wurden Siege von der Front gemeldet, feierte er, gab es Niederlagen, war er traurig.

Doch total verleugnete sich Perel nicht, "damit ich nicht anfing mich selbst zu hassen". Hass war der wichtigste Bestandteil der Nazi-Propaganda, täglich sei das rassistische Gift verabreicht worden, die Gehirne der Jugend damit überschwemmt worden. Noch heute setze er sich mit der Nazi-Doktrin auseinander. "Ich werde sie nicht los."

Perels Worte sind eindringlich, lassen keinen unberührt. Der 80-Jährige berichtet offen und ruhig: von Gefühlen, von Szenen. Die Idiotie der Rassenlehre der Nationalsozialisten beispielsweise wird überaus deutlich, wenn er beschreibt, wie er im Unterricht mit seinen physiognomischen Merkmalen als "klassischer Arier von ostbaltischer Rasse" präsentiert wurde.

Für Perel tat sich damals ein tragischer Konflikt auf: "Während ich 'Heil Hitler' schrie, wurden meine Brüder in Auschwitz ermordet." Das ist ein Grund, warum er nach seiner Emigration nach Israel 40 Jahre schwieg, nicht mal seinen zwei Söhnen von den Jahren in der HJ erzählte. "Ich musste ein neues Leben beginnen, die Vergangenheit verdrängen."

Das änderte sich erst 1985, als Perel am Herzen operiert wurde. Da sagte er zu seiner Frau: "Wenn ich das überlebe, schreibe ich mein Leben auf." Das tat er in dem Buch "Ich war Hitlerjunge Salomon", das dem für den Oscar nominierten Film "Hitlerjunge Salomon" als Vorlage diente.

Ein schlechtes Gewissen will Perel den Jugendlichen nicht machen. "Schuld ist nicht erblich." Er komme, um den Verstand der Menschen "mit der vollen Wahrheit zu beleuchten". Als 80-Jähriger fragt er nach dem Sinn des Lebens. Und antwortet: "Jeder Mensch kann sie Welt zerstören, er kann sie aber auch besser machen." Darum kämpfe er gegen Rassismus, was hierzulande leider nötig sei: "Denn sie marschieren wieder."

Darum auch kommt Perel oft nach Deutschland. "Als ich den Berg von Kinderschuhen in Auschwitz sah, schwor ich mir, so lange über die Nazi-Verbrechen zu berichten, wie mich meine Schuhe tragen." Das wird hoffentlich noch sehr lange sein.

Zwei Identitäten eines Mannes

Salomon Perel wurde am 21. April 1925 in Peine als Sohn frommer Juden geboren und verlebte "zehn Jahre eine sehr glückliche Kindheit als freier Mensch und nicht als zum Tode Verurteilter". 1935 floh die Familie vor der Rassendiskriminierung nach Lodz. Nach dem Einmarsch der Deutschen in Polen flüchtete Perel mit seinem älteren Bruder vor dem Ghetto in Lodz nach Ost-Polen. Als die Wehrmacht 1941 ihren Russland-Feldzug begann, versuchte er nach Minsk zu flüchten, fiel aber deutschen Truppen in die Hände und gab sich als "Volksdeutscher Josef Perjell" aus. Nach einer Zeit als Dolmetscher bei der Wehrmacht an der Ostfront kam der 16-Jährige in die HJ-Schule nach Braunschweig.

Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete Perel bis 1948 als Dolmetscher bei den Sowjets in Ostdeutschland, bevor er im Mai 1948 nach Israel auswanderte. "Ich wollte nie wieder irgendwo als Minderheit leben, sondern im Rahmen einer Mehrheit für Minderheiten kämpfen", sagt Perel, der sich sehr für den Frieden in seiner Heimat engagiert.


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