www.hiergeblieben.de

Der Patriot - Lippstädter Zeitung , 09.04.2005 :

Verlust der Heimat: "So was vergisst man nicht" / Dore Gerwin berichtet von ihrer Vertreibung aus dem schlesischen Wünschelburg / Bis 1945 war dort vom Krieg nichts zu spüren / In Anröchte fand sie ein neues Zuhause

Anröchte. Im schlesischen Wünschelburg war vom Krieg nichts zu spüren. "Meine Mutter sagte immer, uns haben sie vergessen", erinnert sich Dore Gerwin. Erst mit Kriegsende hielten Angst und Schrecken in dem beschaulichen Städtchen nahe der tschechischen Grenze Einzug.

Heute liegt Wünschelburg in Polen und heißt Radkow. Dore Gerwin, ihre Mutter und vier Schwestern wurden 1946 aus der Heimat vertrieben. Die Familie kam schließlich nach Anröchte, wo die 69-Jährige heute noch lebt. Inzwischen ist Wünschelburg die Partnerstadt von Anröchte, Dore und ihr Mann Hermann haben in Radkow ihr "zweites Zuhause" gefunden - aber das ist eine andere Geschichte.

Wünschelburg war eine "heile Welt". Bis im April 1945 Soldaten in die Stadt kamen. "Jeder dachte, die Russen kommen", erzählt Dore Gerwin. Diese hatten vorher fernmündlich durchgegeben, dass sie eine weiße Fahne auf dem Rathaus sehen wollten. "Also hängten wir überall weiße Bettücher aus dem Fenster." Es waren aber nicht die Russen, die da kamen, sondern die deutsche Waffen SS, die auf Fenster und Fahnen schoss und dafür sorgte, dass die Hakenkreuzfahne wieder aufs Rathaus kam. Kurz danach zogen wiederum deutsche Soldaten durch die Stadt, die von den Einwohnern mit Getränken und Essen versorgt wurden.

Am nächsten Tag kamen die gefürchteten Russen mit Panzern und Wagen. "Sie drangen in die Häuser ein, verlangten nach Uhren und vergewaltigten die Mädchen und Frauen. Wir Kinder saßen im Zimmer nebenan, hörten die fürchterlichen Schreie und mussten Rosenkränze beten." Da kommen der lebenslustigen Dore Gerwin dann doch die Tränen. "So was kann man nicht vergessen."

Von den Bauernhöfen hatten die Russen das Vieh beschlagnahmt und trieben es durch Wünschelburg. Die Frauen mussten die Kühe melken, deren Euter schon ganz wund waren. Allerdings: "Die Milch mussten wir wegschütten, sie war schon ganz eitrig." Erst in Bad Kudowa an der tschechischen Grenze wurde das Vieh in Züge verladen und nach Russland transportiert.

Zwei Wochen später zogen dann die Polen in die Stadt ein. Die Wünschelburger mussten ihre Höfe, Häuser und Wohnungen verlassen und umziehen. "Knapp ein Jahr lebten wir noch gemeinsam in der Stadt - mehr oder weniger friedlich. Wir hatten Glück und haben uns ganz gut vertragen." Dore Gerwins Vater hatte bei der Brauerei gearbeitet, nun wohnte der Brauereichef in ihrer Wohnung. "Meine Schwester fragte, ob sie bei ihm putzen durfte. Er wusste natürlich, dass wir unsere Sachen holen wollten. Nur die Puppen, die wollte er behalten." Gemeinsam mit zehn Mädchen und zwei Frauen lebte Dore Gerwin damals in einer Zwei-Zimmerwohnung.

Im März 1946 kam dann der Befehl zur Zwangsevakuierung. Morgens um halbneun mussten die Wünschelburger auf der Straße stehen, 20 Kilo Gepäck waren erlaubt. Im Saal einer Gaststätte warteten sie bis zum Nachmittag, dann ging es los. "Die Pferdewagen standen in einer langen Reihe auf der Straße, wir Kinder und das Gepäck kamen auf den Wagen, die Erwachsenen mussten laufen." Nach Glatz, 25 Kilometer. Dann ging es weiter, mit 30 Leuten in einem Viehwaggon. "Hoffentlich nicht nach Russland, sagten alle." Aber der Zug fuhr in den Westen, bis nach Lippstadt und schließlich Anröchte.

"Am Freitag kamen wir an, am Montag musste ich schon in die Schule." Dore bat ihre Mutter, noch einen Tag bei ihr bleiben zu dürfen. "Aber dann wurde ich so herzlich aufgenommen, zwei Mädchen wichen mir nicht von der Seite." An den Wochenenden durfte sie bei den neuen Freundinnen übernachten.

Auch der Vater kam 1948 aus belgischer Gefangenschaft. "Weil meine Mutter auf den Fluchtstationen beim Roten Kreuz unsere Aufenthaltsorte hinterlassen hatte, hat Papa uns so schnell gefunden."

Wenn Dore und Hermann Gerwin heute in das ehemalige Wünschelburg fahren, werden sie immer herzlich empfangen. So hat die traurige Geschichte schließlich doch ein glückliches Ende gefunden. Denn: "Was nützen Rache und Hass? Auf diese Weise haben wir doch viel mehr davon", lächelt Dore Gerwin.

09./10.04.2005
Redaktion@DerPatriot.de

zurück