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Gütersloher Zeitung / Neue Westfälische , 24.01.2006 :

(Gütersloh) Erzählen heilt Narben / Rund 50 Besucher sprechen im Stadtmuseum über Flucht und Vertreibung

Von Andrea Rolfes

Gütersloh. Europa liegt in Schutt und Asche. Hitlers "totaler Krieg" wütet an den Fronten. Täglich sterben Hunderte Soldaten. Tod und Vertreibung regieren die Welt. In diesen Wirren der Zeit meldet sich ein 17-jähriger Stettiner freiwillig zur Wehrmacht. Joachim Halfpap ahnt nicht, dass er in seine Heimat nie wieder zurückkehren wird. Stattdessen kommt er 1949 mit dem Zug in Gütersloh an.

Die Erinnerungen sprudeln aus ihm heraus, seine Hände gestikulieren, unterstreichen seine Worte. Joachim Halfpap erzählt von der Hetzjagd der Russen und der Gefangenschaft in Tiflis. Um ihn herum stehen Hunderte Barbies. Sie scheinen seiner Geschichte zu lauschen. Genauso wie die 50 Besucher, die an diesem Nachmittag ins Stadtmuseum gekommen sind, um über ihre Vergangenheit zu sprechen. Denn in jenem Raum, in dem derzeit die Puppen-Ausstellung "Busy Girl" zu sehen ist, geht es für knapp vier Stunden nicht um Barbies, sondern um Flucht und Vertreibung.

Im "Erzählcafé" – eine Veranstaltung des Stadtmuseums und der Volkshochschule – können sich die Betroffenen ihre Erinnerungen von der Seele reden. "Darum geht es bei uns", sagt Hans-Dieter Musch, der den Nachmittag moderiert. "Wir legen keinen Wert auf historische Genauigkeit – uns ist die persönliche Geschichte wichtig", sagt der ehemalige Pressesprecher der Stadt. Zum Beispiel die von Joachim Halfpap. Der 79-Jährige spricht deutlich und langsam. Auf die Frage, warum er sich freiwillig zur Wehrmacht gemeldet habe, antwortet er nüchtern: "Früher oder später wäre ich eh eingezogen worden. So konnte ich mir aussuchen, wohin ich komme." Die Luftabwehr war sein Ziel, denn zwei Jahre als Luftwaffenhelfer hatte der damals 17-Jährige bereits hinter sich. "Uns haben die Russen regelrecht gejagt", sagt er. Am 9. Mai 1945 nahmen sie ihn fest. Vier Jahre Gefangenschaft folgten, ehe ihm ein Glas Milch die Freiheit schenken sollte. "Ich hatte Jahre keine mehr getrunken und wurde schwer krank." Ein Lagerkommandeur schickte den deutschen Jungen, der 98 Pfund wog, nach Hause.

Ins pommerische Stettin konnte er nicht zurück. Das Gebiet stand mittlerweile unter polnisch/russischer Verwaltung. So fuhr er nach Gütersloh, der unbekannten Stadt, in der seine Geschwister bereits ein neues Zuhause gefunden hatten. "Bei meiner Ankunft sah ich Fleisch im Schaufenster und dachte es sei eine Attrappe", erinnert sich Halfpap. Auch Heinz Gerber erlebt auf der Flucht von Breslau nach Gütersloh eine Überraschung. Eine Einheit russischer Panzer kommt ihm entgegen. Um sich zu verstecken, ist es zu spät. Die Fahrzeuge halten an, eine Luke öffnet sich. "Wo gehts denn hier nach Berlin zum Hitler?", fragt ein russischer Soldat und lacht. Heinz Gerber bleibt unversehrt – körperlich.

"Es ist wichtig, dass wir das Geschehene verarbeiten", weiß Musch. "Nur das hilft, die Narben zu heilen." Deswegen wird das Erzählcafé ein drittes Mal stattfinden – allerdings nicht für Zuhörer. Eingeladen sind am 6. Februar nur Erzähler. Anmeldung unter Telefon 822041.


lok-red.guetersloh@neue-westfaelische.de

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