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Lippische Landes-Zeitung , 15.04.2004 :

Ein Zugbegleiter namens Angst / Zeitzeugen erinnern sich: Vor 60 Jahren beschossen amerikanische Bomber den Triebwagen bei Aerzen

Von Silke Buhrmeister

Barntrup/Aerzen. Über Hameln hätten sie das Unheil kommen sehen können. Doch da meinten einige noch, die neuen "Focke-Wulf-Aufklärer 189" der deutschen Luftwaffe am Horizont auszumachen. Andere erkannten die Lightnings sofort. Aber es gab kein Entrinnen: Zu schnell waren die amerikanischen Jagdbomber, die den Elektro-Triebwagen der Deutschen Reichsbahn, der zwischen Hameln und Lemgo verkehrte, kurz vor dem Aerzener Bahnhof am 15. April 1944 angriffen. 60 Jahre später treffen sich drei Männer, die im Triebwagen saßen und dem Tod knapp entkamen, um sich zu erinnern - an jene Geschehnisse, die einen dunklen Schatten über den sonnigen Frühlingstag warfen.

Helmut Leseberg und Emil Tegeler aus Sonneborn waren damals Jugendliche. Täglich nutzten sie die Verbindung zwischen ihren Elternhäusern und dem Weserbergland, um zu ihren Lehrbetrieben zu gelangen. Der 15-jährige Tegeler machte in Klein Berkel eine Ausbildung zum Maschinenschlosser, der ein Jahr ältere Leseberg lernte bei Wesertal in Hameln den Beruf des Industriekaufmanns. Mit im Zug saß auch Fritz Lücke aus Grießem. Der Neunjährige hatte seine Mutter zur Schwangerschaftsuntersuchung nach Hameln begleitet.

"Das Dach sah aus wie ein Sieb"
Helmut Leseberg

"Der Mittagszug am Samstag war immer brechend voll. Wir haben deshalb im Mittelgang gestanden", erinnert sich Tegeler im Gespräch mit der LZ. Sein Meister habe vor dem Einstieg noch gesagt, dass sich die Mitarbeiter verteilen sollten, damit nicht alle getroffen werden. Eine Vorahnung auf das, was kommen würde: Etwa 300 bis 400 Menschen, die ins Wochenende fuhren, standen und saßen im Triebwagen, der im Volksmund "Arbeiterzug" genannt wurde, dicht an dicht, als die Amerikaner gegen 13.40 Uhr das Gefährt aus der Luft beschossen.

"Das Dach sah aus wie ein Sieb. Wir haben einfach nur Glück gehabt, dass wir mit dem Leben davon gekommen sind", sagt Leseberg. Sein Mantel war voller Blut - fremdes Blut, denn er selbst blieb unverletzt. Seine Aktentasche hatte einen Schuss abgefangen. Auch Tegeler wurde nicht getroffen - anders als die beiden Sonneborner August Tegeler (51 Jahre) und Wilhelm Beste (43 Jahre), die unter den insgesamt sieben Todesopfern waren.

"Der Flur war voll mit Verletzten"
Fritz Lücke

Fritz Lücke, der dank der schwangeren Mutter in der privilegierten zweiten Klasse Platz nehmen durfte, hatte weniger Glück. Ein Schuss traf ihn im Rücken: "Als ich abends um 19 Uhr endlich im Krankenhaus Hameln ankam, war der Flur schon voll mit Verletzten." Neunmal wurde Lücke in der Folgezeit an seiner Kriegsverletzung operiert, Beschwerden hat er bis heute.

Tegeler und Leseberg bahnten sich unterdessen den Weg durch Gärten und freies Feld nach Hause - zehn Kilometer waren es noch von Aerzen bis Sonneborn.

Viel Zeit, sich von dem Schrecken zu erholen, gab es nicht. Am Montag bestiegen die beiden wieder den Zug ins Weserbergland, immer begleitet von einem mulmigen Gefühl. "Die Angst vor Tieffliegern war eben allgegenwärtig. Im letzten Kriegsjahr wurde immer irgendwas beschossen: Die Mittelstraße in Barntrup und selbst der einzelne Bauer auf dem Feld", sagt Leseberg.

Der Luftangriff über Aerzen hat den Groll gegen die Amerikaner bei den drei Überlebenden nicht wachsen lassen, auch wenn in der folgenden Woche in der lokalen Zeitung im Namen des Landrates verkündet wurde, dass die Trauerstunde für die Todesopfer "eine Verpflichtung sei, nicht nachzulassen in dem Kampf, auf dass die Opfer dieses Terrors gerächt werden und die siegreichen Fahnen über Großdeutschland wehen".

Wenn sie an den 15. April 1944 denken - und das kommt nicht selten vor - haben Tegeler, Leseberg und Lücke indes nur einen Gedanken: Nie wieder Krieg.


Blomberg@lz-online.de

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