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Lippische Landes-Zeitung , 17.04.2004 :

Ein brüchiges Denkmal / Die Kontroverse um Bürgermeister Gräfer

Von Thorsten Engelhardt

Lemgo. "Leider traf den kühnen und weitschauenden Bürgermeister für seine aufopfernde Tat ein hartes Schicksal", schreibt Joseph Wiese in seinen Erinnerungen "Lemgo in schwerer Zeit" über die Ermordung des Bürgermeisters Wilhelm Gräfer durch SS-Männer am 5. April 1945. Damit wird klar, wie die Person des Bürgermeisters Gräfer lange gesehen wurde: Als Mann, der mutig für seine Stadt sein Leben gegeben hat.

Denn so einen Helden zu haben, das färbt ja auch auf alle anderen ab. Schließlich war es das Stadtoberhaupt, das sich mutig den Wehrmachtskommandanten und ihrem "Kadavergehorsam" entgegenstellte.

Das Bild von Gräfer als "feinem Menschen", wie es 1983 die Autoren der Schrift "Lemgo im 3. Reich" nennen, dominierte in der Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit die vorherrschende Sicht auf die historische Person und die Erinnerungskultur in Lemgo.

"Ein rechter Leiter" der Stadt sei mit Gräfer zu Grabe getragen worden, schrieb sein Freund, der spätere stellvertretende Bürgermeister Joseph Wiese. In der Stadt hätten "tausende von Herzen" für den brutal Ermordeten geschlagen. Landespräsident Heinrich Drake schrieb in einem Nachruf am 29. August 1945: "Die Nachwelt wird ihn als einen pflicht- und verantwortungsbewussten deutschen Menschen und unbeirrt für das Wohl der ihm anvertrauten Stadt eintretenden Bürgermeister ehren und in Erinnerung behalten." Das tat sie, unter anderem mit der Benennung der Realschule und einer Straße nach Gräfer.

Bis in den 70er und 8ßer Jahren ein neues Interesse an der Ortsgeschichte eine andere Sichtweise hervorbrachte. Eine Gruppe Jugendlicher forschte und rüttelte an dem Denkmal, indem sie Gräfer vorwarf, aktiv die Politik der Nazis in den zwölf Jahren des "Dritten Reiches" unterstützt zu haben. Um die Person Gräfer entbrannte eine Kontroverse zwischen denjenigen, die das tradierte Gedächtnis des Bürgermeisters bewahren wollten und den "Bilderstürmern". Die Auseinandersetzung schwappte damals in die Öffentlichkeit, so dass sich schließlich eine studentische Arbeitsgruppe der Uni Bielefeld wissenschaftlich der Position des Bürgermeisters im NS-Staat am Beispiel Wilhelm Gräfers annahm. 1982 veröffentlichten die angehenden Historiker ihre Recherchen in den "Lippischen Mitteilungen" (Nr. 51, 1982, S. 211 - 239).

Gräfer wurde am 19. Dezember 1923 zum Bürgermeister Lemgos gewählt. Wie die Studentengruppe aus Bielefeld berichtet, galt er als national-konservativ. Besondere Affinität zu den Nazis sei ihm aber zunächst nicht nachzuweisen, so die Bielefelder Studenten 1982. Neuere Forschungen, insbesondere von Hanne und Klaus Pohlmann (Reihe Forum Lemgo, Band 5), bestätigen Gräfers national-konservative Haltung.

Bald nach der "Machtergreifung" äußerte er sich in einer Rede zur "Gleichschaltung" des Stadtrates aber ablehnend gegenüber dem Parteienstaat Weimarer Prägung und stellte gleichzeitig seine Auffassung von der Stadtverwaltung als unpolitisches, an sachlicher Aufgabenlösung orientiertes Handeln dar. Am 1. Mai 1933 trat er in die NSDAP ein. Schon im März 1933 legte er Bekenntnisse zum "nationalen Deutschland" sowie öffentlich Treuegelöbnisse auf Hitler ab. Für die Jung-Historiker der 80er Jahre war das ein Beispiel dafür, wie Gräfer die generell üblichen Lobpreisungen und Rituale des NS-Staates übernahm.

Die NSDAP aber war misstrauisch. 1936 wurde Gräfer aus der Partei ausgeschlossen, weil er früher einmal Mitglied einer Freimaurerloge gewesen war. Gräfer bemühte sich um eine Wiederaufnahme in die Partei, die schließlich "gnadenweise" gestattet wurde. Doch NS-Funktionäre wie der stellvertretende Staatsminister Wedderwille blieben skeptisch. Er beschrieb Gräfer als "wendigen und anpassungsfähigen Menschen", wie es übereinstimmend in den "Lippischen Mitteilungen" und im Buch der Eheleute Pohlmann heißt. Das Verhältnis zur Partei blieb nicht frei von Spannungen, auch als Gräfer1942 zum Bürgermeister auf Lebenszeit ernannt wurde.

Das Urteil der Bielefelder Arbeitsgruppe über Gräfer fällt nicht besonders gut aus. Er habe die nationalsozialistische Judenpolitik rückhaltlos ausgeführt und Freiräume seiner Amtsführung nicht zugunsten der jüdischen Bürger benutzt. Sie kreiden ihm auch an, teilweise in der Diskriminierung und Verfolgung der jüdischen Mitbürger aus Eigeninitiative gehandelt zu haben. In seinem Verhalten gegenüber der NSDAP zeige sich Opportunismus. Hinsichtlich seines Verhaltens gegenüber den Nazis, der Verfolgung der Juden und der Überwachung der politischen Gegner sei Gräfer allerdings auch nur ein Beispiel für viele andere Funktionsträger seiner Zeit und den Alltag im Nationalsozialismus. Ihr Schluss: Gräfers Handeln angesichts des Ende des Regimes sei kein Indiz für Widerstand, sondern eine Aktion in einer Ausnahmesituation. Insgesamt habe Wilhelm Gräfer von 1933 bis 1945 nationalsozialistische Politik in Lemgo durchgesetzt.

Etwas nachsichtiger geht eine Autorengruppe mit Gräfer um, die 1983 eine Arbeit über "Lemgo im Dritten Reich" veröffentlicht. Sie kommt zu dem Schluss, dass Gräfer, der "Führer im Rathaus", zwar den "Buchstaben, aber nicht dem Ungeist der Bestimmungen nach gehandelt habe". Allerdings ist ihre Abhandlung über Gräfer im Gesamtzusammenhang kurz gehalten. Pohlmanns stellen fest, dass sich Gräfers Amtskollegen nach der "Machtübernahme" ähnlich verhalten wie das Lemgoer Stadtoberhaupt. Sie weisen aber auch darauf hin, dass in Lemgo die NS-Judenpolitik genauso konsequent durchgesetzt wurde wie anderswo auch.

"Gräfer war kein Nazi", daran hält der heute 91-jährige Herbert Lüpke fest. Ihm ist viel daran gelegen, die Geschichte emotionslos zu betrachten. Seit seiner Zeit als junger Mann in England tritt er für einen liberalen Pragmatismus ein. "Wir leben in einer feindlichen Welt. Juder muss zusehen, mit dem, was auf ihn zukommt, fertig zu werden und die Chancen zu erkennen, die sich ihm bieten. Gräfer war im Grunde ein vernünftiger Mensch. Das hat er ja bewiesen", sagt Lüpke. Und fügt hinzu: "Wir alle waren mal für Adolf Hitler. Ich war auch begeistert. Aber als ich aus England wieder kam, hatte ich mit den Nazis nichts mehr im Sinn. Ich habe mich rausgehalten aus der Politik. Aber ich war für Deutschland, das war ja meine Heimat. Heute weiß ich, dass wir damals das Mittelalter an Grausamkeit noch übertroffen haben."

Nicht nur England und die darauf folgenden Ereignisse haben Lüpkes Blick geweitet. In den ersten Tagen der Besatzung arbeitete er als Dolmetscher für die Amerikaner, half bei der Neuorganisation des Lemgoer öffentlichen Lebens. Dann wurde er Unternehmer und später lockte ihn das große Abenteuer. Zwölf Mal hat er auf einem Segelboot den Atlantik überquert, zuletzt noch 2003. Und heute sieht er sich als Europäer: "Denn als Europäer haben wir eine größere Aufgabe", sagt der 91-Jährige.




Teil 4 folgt

Anmerkung von www.hiergeblieben.de: Teil 1: "Ein Tag im April / Wilhelm Gräfer und das Kriegsende in Lemgo 1945 - Zeitzeuge Herbert Lüpke erinnert sich" und Teil 2: "Das letzte Geleit / Die letzten Stunden des Lemgoer Bürgermeisters Wilhelm Gräfer im April 1945" sowie Teil 4: "Ein Mann im Geflecht der Stadtelite / Das Interview mit Hanne und Klaus Pohlmann - Letzter Teil der Gräfer-Reihe" erschienen am 03., 08. und 23. April 2004 in der Lippischen Landes-Zeitung und sind auf dieser Hompage ebenfalls dokumentiert.

17./18.04.2004
Lemgo@lz-online.de

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