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Mindener Tageblatt , 29.06.2017 :

Endstation auf dem Leidensweg

Zum ersten Mal führt ein Spaziergang zu Orten, wo der dänische Widerstandskämpfer Jørgen Kieler und andere Portaner KZ-Häftlinge das Grauen erlebt haben

Von Stefan Lyrath

Porta Westfalica (Ly). Am Häverstädter Stollen erlebt Jørgen Kieler, was die Nazis mit "Vernichtung durch Arbeit" meinen. KZ-Häftlinge müssen Eisenbahnschienen einen steilen Berghang hochtragen. Wer nicht mithalten kann, wird erschossen. Zum Stollen fahren die Männer mit der Straßenbahn. Bis zu 1.500 Häftlinge sind damals allein im Saal des Barkhauser Hotels "Kaiserhof" untergebracht, darunter Jørgen Kieler und sein Bruder Flemming, zwei Widerstandskämpfer aus Dänemark.

Den Einwohnern können die Leiden der Opfer kaum verborgen geblieben sein. "Jeden Tag mussten wir tote oder sterbende Genossen mit uns zum Lager tragen, und jeden Tag konnte es die deutsche Zivilbevölkerung sehen", wird Jørgen Kieler später in seinem Buch "Dänischer Widerstand gegen den Nationalsozialismus" schreiben.

Dies ist nur eine von vielen erschütternden Geschichten, die der Portaner Natur- und Landschaftsführer Holger Hansing den 20 Teilnehmern des ersten Spaziergangs auf den Spuren von Dr. Jørgen Kieler erzählt. Hansing hat sich wochenlang vorbereitet. Er erzählt mitfühlend, anschaulich und detailreich, lässt Fotos und Texte herumgehen.

Der nächste Spaziergang ist für Sonntag, 9. Juli, um 11 Uhr geplant. Treffpunkt ist der Parkplatz des früheren Berghotels in Hausberge.

Jørgen Kieler, nach dem Krieg ein bekannter dänischer Krebsforscher, ist am 19. Februar 2017 gestorben. An der Porta bleibt er unvergessen. Dafür sorgt der 2009 gegründete Verein KZ-Gedenk- und Dokumentationsstätte, der die dunkelsten Kapitel der Portaner Vergangenheit aufarbeitet und kürzlich erstmals eine Kieler-Medaille verliehen hat.

September 1944: Als die Dänen nach der Ankunft im KZ Hamburg-Neuengamme hören, dass es bald in ein Hotel geht, kommt so etwas wie Freude auf. Tatsächlich erwartet sie das Grauen. Die SS hat das Hotel "Kaiserhof" beschlagnahmt und aus dem bisherigen Festsaal ein KZ gemacht. "Porta war das Lager mit der höchsten Sterblichkeit unter allen dänischen Häftlingen in Europa", erklärt Holger Hansing. Es sind 44 Prozent.

Bei ihm hat sie zu Eiweiß-Abbau im Gehirn geführt

Bereits die Hinfahrt, 42 Stunden im Schneckentempo mit der Bahn, ist eine Tortur: Pro Viehwaggon 50 Häftlinge, die "wie auf Rodelschlitten" mit gespreizten Beinen sitzen und schlafen müssen. Rund 200 Männer kommen mit diesem Transport an, darunter 98 Dänen. In den vierstöckigen Betten, aufgebaut in Zweierreihen, müssen sich zwei Insassen eine 70 Zentimeter breite Pritsche teilen.

Toilettenpapier fehlt, in den Waschraum für 1.500 Personen passen zehn Leute auf einmal. Morgens gibt es eine Scheibe Schwarzbrot mit Margarine, mittags Rübensuppe, abends Schwarzbrot mit Belag, zum Beispiel rohem Hackfleisch. Das reicht nicht, denn die Arbeit im Jakobsstollen oder dem Weserstollen ist mörderisch: täglich zwölf Stunden, kurze Mittagspause, nach der Rückkehr eine Stunde Appell. Wenn die Männer eine Ratte fangen können, "wird das arme Tier sofort getötet und verspeist".

Als Medizinstudent darf Kieler später auf der Krankenstation arbeiten. Vielleicht rettet ihm dies das Leben. Nach dem Krieg schreibt er ein Buch über die Hungerkrankheit. Bei ihm hat sie zu Eiweiß-Abbau im Gehirn geführt. Eines Tages kann Kieler sich an seine Eltern und Geschwister nicht mehr erinnern. "Eine solche Verzweiflung" hat er während der gesamten Gefangenschaft nicht gespürt.

Fast noch schlimmer als der ständige Hunger ist der Lagerälteste Georg Knögel, ein Funktionshäftling. "Dieser Gorilla konnte kaum an einem Häftling vorbeigehen, ohne ihn zu schlagen, zu bedrohen oder zu beschimpfen", so Kieler. Oder zu töten. "Knögel kam als Kriegsverbrecher 1948 unter die Guillotine", berichtet Holger Hansing. Dem ähnlich gefürchteten SS-Kommandoführer Hermann Nau erging es genauso.

Als Jørgen Kieler 1970 nach 25 Jahren zum ersten Mal Porta Westfalica besucht und einen Kaffee trinken möchte, will ihn ein Ober nicht bedienen, nachdem er sich als KZ-Überlebender zu erkennen gegeben hat. "Es wurde uns bald klar, dass frühere Häftlinge hier nicht erwünscht waren", schreibt der Mann aus Dänemark. Kieler erklärt sich die Feindseligkeit damit, dass der Ober ein Mitwisser gewesen sein könnte. Gut möglich: Rund 3.300 Häftlinge waren in den drei Portaner Lagern eingepfercht, bis zu 500 sind gestorben. Jørgen und Flemming Kieler haben überlebt.

Bildunterschrift: Die Teilnehmer des Spaziergangs machen an der Seite des ehemaligen Hotels "Kaiserhof" Halt, wo früher ein KZ für bis zu 1.500 Häftlinge war.


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