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Verler Zeitung / Westfalen-Blatt , 07.02.2015 :

Frei, aber "ganz allein auf der Welt" / Irene Shapiro lebte 1945 im DP-Camp Kaunitz - Erinnerungen daran wurden jetzt ins Deutsche übersetzt

Von Meike Oblau

Verl-Kaunitz (WB). Sie hatten mit ihrem Leben abgeschlossen: 830 Frauen wurden am 29. März 1945 von Lippstadt aus auf einen so genannten Todesmarsch ins KZ Bergen-Belsen geschickt. Ihre Reise endete bereits nach 25 Kilometern, in Kaunitz, wo sie am 1. April 1945 von der US-Armee befreit wurden. Jetzt ist erstmals eine schriftliche Biografie einer dieser Frauen aufgetaucht.

Irene Shapiro verfasste ihr Buch "Revisiting the Shadows". Sie war bereits über 70, als sie sich entschied, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. 2007 ist Irene Shapiro in Amerika gestorben. Ihre Memoiren entdeckt hat jetzt die Wissenschaftlerin Dr. Iris Nölle-Hornkamp, als sie im Auftrag des Jüdischen Museums Westfalen in Dorsten eine Ausstellung zum Thema "Heimatkunde. Westfälische Juden und ihre Nachbarn" mitgestaltete. In der Ausstellung werden die so genannten DP-Camps am Beispiel von Kaunitz vorgestellt.

Dass es dieses Camp in Kaunitz gab, ist bekannt, es gibt eine Gedenktafel vor Ort an der Straße Zum Sennebach, Schüler der Gütersloher Anne-Frank-Gesamtschule recherchierten in den 90er Jahren die Geschichte des Kaunitzer Camps. Hunderte Mädchen und Frauen wurden damals gegen den Widerstand der Bevölkerung bei örtlichen Familien einquartiert.

Irene Shapiro hieß damals noch Rena Haas. Sie wuchs im polnischen Bialystok auf. 1941 wurde der Großteil der Familie verhaftet und ins dortige Ghetto gebracht. Während Mutter und Vater starben, überstand ihre Tochter die Konzentrationslager Treblinka, Lublin-Majdanek, das Auschwitz angeschlossene Zwangsarbeiterlager Blizyn und ab Mai 1944 Auschwitz-Birkenau. Im Oktober 1944 kam sie in das an Buchenwald angeschlossene Außenlager Lippstadt, das die Kruppschen Munitionswerke mit Zwangsarbeitern "versorgte".

Das Kapitel ihrer Memoiren, das sich mit ihrer Zeit in Kaunitz befasst, ist nun eigens für die Ausstellung in Dorsten von Patricia van den Brink aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt worden. "Mein großer Wunsch wäre es eigentlich, das komplette Buch zu übersetzen", sagt die Mitorganisatorin der Ausstellung Iris Nölle-Hornkamp. Das übersetzte Kapitel finden Interessierte auch im Ausstellungskatalog. Eindrücklich schildert Irene Shapiro hier ihre Erlebnisse in Kaunitz. Natürlich ist sie erleichtert, in Sicherheit zu sein, uneingeschränkte Freude vermag sie aber nicht zu empfinden: "Endlich bin ich frei, aber genau wie die meisten Überlebenden im Lager bin ich ganz allein auf der Welt." Während ihrer Zeit in Kaunitz erfährt sie, dass ihre Mutter etwa einen Monat vor der Befreiung des Lagers Bergen-Belsen dort gestorben ist. "Ich bin frei, und ich müsste ein neues Leben beginnen, aber jetzt, wo meine Mutter mein Leben mit mir nicht teilen kann, hat es kaum noch Bedeutung für mich", erinnert sie sich später.

In ihrem Buch denkt sie darüber nach, wie sie es empfand, frei zu sein: "Ich werde in einem richtigen Bett mit sauberer, weißer Bettwäsche, einem wunderbar weichen Kissen und einer richtigen Steppdecke wach und höre Musik aus dem Radio." An einem der ersten Tage in Kaunitz sieht sie zum ersten Mal in ihrem Leben Afroamerikaner - es sind ihre Befreier, US-Soldaten. "Wir verbringen die nächsten Tage damit, die verlassenen deutschen Häuser nach Essen und Kleidung zu durchsuchen. Langsam gewöhnen wir uns daran, normal zu essen, bis wir satt sind, statt zu fressen, als ob wir nie wieder etwas kriegen." Kurz darauf wird Kaunitz zum Displaced Persons Camp: "Mit Unterstützung des Bürgermeisters erhalten wir Lebensmittel von der Armee. Durch den Platzmangel mussten manchmal bis zu sechs Personen in einem Raum wohnen."

Mehrfach reist Irene Shapiro nach Bergen-Belsen, um etwas über den Verbleib ihrer Mutter zu erfahren. "Den ganzen Tag suche ich mit dem Feldrabbiner vergebens unter den Toten, den Halbtoten und den noch lebenden, völlig ausgemergelten Insassen des neuen Lagers. Meine Mutter ist nicht zu finden." Die Todesnachricht erhält sie erst viel später.

Ab April 1945 fährt Irene Shapiro jeden Tag von Kaunitz nach Verl, wo sie für die US-Armee arbeitet. Am ersten Jahrestag der Befreiung werden in Kaunitz mehrere Umzüge und ein Konzert für die Flüchtlinge und die Bewohner organisiert. Es wurde auch eine Bibliothek gegründet und es gab erste Kinovorführungen.

Irene Shapiro ist zu dieser Zeit allerdings schon nicht mehr in Kaunitz. Sie beginnt bereits im Herbst 1945 ein Medizinstudium in Heidelberg, das für "Displaced Persons" angeboten wird. Im Mai 1946 gehört sie zu den ersten hundert DPs, denen Präsident Truman ein Gemeinschaftsvisum für die Einreise in die USA garantiert hatte.

Ihre Aufzeichnungen sind ganz konkrete Schilderungen des Alltags im DP-Camp Kaunitz. Irene Shapiro lebte bis zu ihrem Tod 2007 im US-Bundesstaat New York.

www.jmw-dorsten.de

Weitere Infos

Wer sich weitergehend informieren möchte, kann dies bis zum 16. Mai in der Ausstellung "Heimatkunde. Westfälische Juden und ihre Nachbarn" im Jüdischen Museum Westfalen in Dorsten tun. Der Heimatverein Verl bietet zudem zu diesem Thema am Karfreitag, 3. April, um 16 Uhr eine Pättkesfahrt nach Kaunitz an. Im Anschluss wird im Heimathaus ein Film zum DP-Camp gezeigt.

DP-Camps

DP-Lager (englisch DP-Camps) waren Einrichtungen zur vorübergehenden Unterbringung so genannter Displaced Persons (DPs) nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland, Österreich und Italien. Als "Displaced Persons" wurden Zivilisten verstanden, die sich infolge des Krieges nicht mehr in ihrem Herkunftsland befanden, aber nach den Vorstellungen der alliierten Streitkräfte dorthin zurückkehren sollten. In der überwiegenden Mehrheit handelte es sich dabei um Personen, die sich als ehemalige KZ-Häftlinge oder Zwangsarbeiter oder als von den Nationalsozialisten angeworbene ausländische Arbeitskräfte in den nunmehr westlichen Besatzungszonen befanden. In der Erklärung von Jalta hatten sich die Alliierten die Rückführung von Flüchtlingen in ihr Heimatland zum Ziel gesetzt. Bis 1946 konnten knapp sechs Millionen DPs in ihre Heimat zurückgeführt werden. Für ungefähr eine Million Menschen kam jedoch eine Rückkehr in ihre Heimat nicht in Frage.

Bildunterschrift: Arbeiterinnen bei der Arbeit in der Nähstube im "Displaced Persons Camp" in Kaunitz: Das Foto wurde zwischen 1946 und 1948 aufgenommen. Im Camp wohnten oft bis zu sechs Personen in einem Zimmer.

Bildunterschrift: Irene Shapiro lebte von 1946 bis 2007 in Amerika.

Bildunterschrift: Das Buchcover der Memoiren "Revisiting the Shadows".

Bildunterschrift: So sah Kaunitz um 1947 aus. Damals gehörte es noch zum Kreis Wiedenbrück und zum Regierungsbezirk Minden. Beides steht auch auf dem Schild am Ortseingang.

Bildunterschrift: An das DP-Camp in Kaunitz erinnert seit den 1990er Jahren eine Gedenktafel nahe des Sportplatzes.

07./08.02.2015
verl@westfalen-blatt.de

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