www.hiergeblieben.de

Neue Westfälische 15 - Paderborn (Kreis) , 28.02.2013 :

Dunkles Kapitel der Geschichte / Erinnerung an das Arbeitslager am Grünen Weg

Paderborn. Vor siebzig Jahren, am 1. März 1943, wurden sämtliche Insassen des jüdischen Umschulungs- und Arbeitslagers, junge Frauen und Männer, in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Die Paderborner Historikerin Margit Naarmann blickt zurück auf dieses dunkle Kapitel Paderborner Geschichte - und erinnert an einen renommierten Journalisten in der Nachkriegszeit: Ernest W. Michel. Nichts deutet heute noch darauf hin, dass am Grünen Weg 86 (Ecke Frankfurter Weg) in Paderborn auf einem Gelände außerhalb der Stadt seit Mitte Juli 1939 bis zur Auflösung des Lagers am 1. März 1943 in fünf Baracken mit je unterschiedlicher Verweildauer etwa einhundert Jüdinnen und Juden lebten. Um vor allem jungen Juden zur Emigration zu verhelfen, hatte die "Reichsvertretung der deutschen Juden" (eine jüdische Interessenvertretung und Institution jüdischer Selbsthilfe) nach 1933 nahezu sechzig Ausbildungsstätten beziehungsweise Lehrgüter eingerichtet, um junge Juden zu "körperlicher, vorwiegend landwirtschaftlicher und gärtnerischer Arbeit als Vorbereitung ihrer Auswanderung" auszubilden. In Paderborn sollten sie beim Wasserleitungsbau- und bei Kanalisationsarbeiten, im Straßenbau und zu Hilfsarbeiten beim Häuserbau eingesetzt werden. Tatsächlich arbeiteten sie zu 60 Prozent für die Stadt Paderborn vorwiegend bei der Müllabfuhr und bei Friedhofsarbeiten etc.; 40 Prozent wurden durch das Arbeitsamt unmittelbar an Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft vermittelt.

"16 Männer überlebten"

Nach der Deportation der Paderborner jüdischen Familien in vier Deportationen von Dezember 1941 bis Juli 1942 wurde am 26. Februar 1943 dem Lagerleiter Kuttner die Räumung des Lagers zum 1. März 1943 eröffnet. Mit der Deportation vom Bahnhof Kasseler Tor "in Extrawagen" mit dem fahrplanmäßigen Zug um 8.24 Uhr nach Bielefeld zur Weiterfahrt in das Vernichtungslager Auschwitz endete die fast vierjährige Existenz des Lagers "Grüner Weg". 98 junge Juden, Männer und Frauen, unter ihnen drei Kinder, das jüngste, Dan Fuld, sieben Monate alt, wurden direkt nach Auschwitz deportiert. Auschwitz und weitere Lager überlebten sechzehn Männer, darunter Erwin Angress und Kurt Steinitz, sowie eine Frau. Auch Ernest W. Michel, 1923 in Mannheim als Sohn eines Zigarrenfabrikanten geboren, zählt zu den Überlebenden der Konzentrationslager Auschwitz, Birkenau, Buchenwald und Schlieben-Berga, einem Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald. Nach seiner Flucht im April 1945 kehrte er nach Mannheim zurück und arbeitete dort in der DP (Displaced Persons)-Abteilung der US-Militärregierung. Hier traf er auf einen Offizier der Militärregierung, Captain Picard, der Ernest Michel fragte, ob er nicht für eine deutsche Zeitung schreiben wolle. Ein gewisser Theodor Heuss habe von ihm gehört und wolle ihn gerne kennenlernen. Michel wurde zunächst Heuss’ Mitarbeiter bei der Rhein-Neckar-Zeitung, aber schon im November 1945 von der Deutschen Allgemeinen Nachrichten-Agentur (DANA) als Sonderkorrespondent zu den Nürnberger Prozessen, die am 20. November 1945 mit insgesamt 218 Verhandlungstagen begannen, entsandt. Seine Berichte zeichnete er als "Sonderberichterstatter Ernst Michel, ehemaliger Häftling Nr. 104995, KZ Auschwitz". Nicht alle Zeitungen übernahmen den Zusatz.

In einem Interview mit dem Spiegel stellt Michel die damalige Problematik heraus, möglichst frei von persönlichen Emotionen zu berichten. Zwischen Göring, Heß, Keitel, Kaltenbrunner, Streicher und ihm standen nur ein paar Meter. Manchmal wäre er ihnen "am liebsten an die Gurgel gesprungen", und er habe sich immer wieder gefragt, warum sie ihm, seinen ermordeten Eltern, seinen Freunden dies alles angetan hätten. In einer Verhandlungspause kam Görings Verteidiger Dr. Stahmer zu Ernst Michel und übermittelte ihm Görings Wunsch, diesen Auschwitz-Häftling Ernst Michel persönlich kennenzulernen. Zum Besuch bei Göring schreibt Michel in seinen Erinnerungen, dass er schon vorher "nervös" war. Görings Sekretär hatte mehrere Interviews zwischen ihm und Dr. Stahmer (Görings Verteidiger) arrangiert. Als er Göring dann erblickte, erstarrte Michel "zur Salzsäule". Er sei mit den "Eindrücken, die auf mich einstürmten" nicht fertig geworden und bedauere es, sich überhaupt in die Zelle zu "diesem Unmenschen" begeben zu haben. Er habe sich sofort umgedreht und erinnere sich nur noch an Görings erstaunten Gesichtsausdruck, als er die Zelle verließ und von einem Militärpolizisten nach draußen geführt wurde. Im Juli 1946 emigrierte Ernst, nun Ernest, Michel in die USA und stieg bis zum Präsidenten der einflussreichen jüdischen Wohlfahrtsorganisation, der United Jewish Appeal Federation (UJA), auf. Er lebt in New York. Seine Erinnerungen "Promises Kept" erscheinen in wenigen Monaten in deutscher Sprache und werden von der Stadt Mannheim herausgegeben.

Bildunterschrift: Ernest W. Michel: Berichtete über die Prozesse in Auschwitz.


paderborn@neue-westfaelische.de

zurück