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Lippische Landes-Zeitung , 03.04.2004 :

Ein Tag im April / Wilhelm Gräfer und das Kriegsende in Lemgo 1945 - Zeitzeuge Herbert Lüpke erinnert sich

Lemgo. Herbert Lüpke hat in den vergangenen Jahren nicht mehr häufig über jenen Tag gesprochen. Dem Bürgermeister Austermann berichtete er mal davon, aber sonst schwieg er. Doch jetzt war der 91-jährige Lüpke noch einmal bereit, mit der LZ über den Tag zu reden, an dem er Stadtgeschichte schrieb, an dem Lemgo nicht zerstört wurde, der aber einem Bürgermeister das Leben kostete: der 4. April 1945. Lesen Sie heute den Auftakt zu einer Serie über die Figur des Bürgermeisters Wilhelm Gräfer und die damaligen Ereignisse.

Lüpke war damals der Erste, der mit den amerikanischen Truppen vor den Toren der Stadt Kontakt aufnahm. Für den Versuch, eine kampflose Übergabe Lemgos herbeizuführen, wurden er und Bürgermeister Wilhelm Gräfer vom deutschen Kampfkommandanten der Stadt festgenommen. Während Lüpke die Flucht gelang, wurde Gräfer vor ein Kriegsgericht gestellt und erschossen.

Heute sitzt Lüpke im Wohnzimmer seines Hauses an der Lageschen Straße. Auf diesem Anwesen hat die Geschichte am 4. April 1945 ihren Anfang genommen. Herbert Lüpke erinnert sich: "Im Laufe der Nacht wurde unsere Fabrik von deutschen Soldaten besetzt. Dann kam ein Anruf vom Bürgermeister für mich. Er sagte, dass der Feind im Anmarsch sei. Er komme entweder über die Lagesche oder die Detmolder Straße. Wenn er über die Lagesche komme, sollte ich verhandeln."
Am Morgen machte sich Lüpke zu Fuß auf den Weg Richtung Hörstmar. Er hatte gehört, dass die Amerikaner dort bereits standen. "Ich traf auf der Straße auf den ersten Panzer und bin mit einem weißen Taschentuch in der Hand darauf zu gegangen. Der Panzerkommandant holte einen Jeep hinzu, der mich zum Hof des Bauern Lüttmann brachte. Dort war der Gefechtsstand. Die Offiziere waren absolut freundlich zu mir. Sie wollten wissen, ob ich verhandeln dürfe. Wenn nicht, sollte ich einen Verhandlungsführer beibringen."

Das war für Lüpke der Bürgermeister. Er lieh sich bei Lüttmanns ein Fahrrad, radelte nach Haus und rief Gräfer an. Der kam mit dem Polizeioberleutnant Jacobi an die Lagesche Straße gefahren. Von dort fuhren Lüpke und Gräfer gemeinsam mit dem Auto zu den Amerikanern. Jacobi - laut Lüpke in SS-Uniform - blieb zurück. "Den wollte ich nicht dabei haben."

Dass Lüpke in diesem Moment eine Rolle in der Stadtgeschichte übernahm, liegt an seinen Sprachkenntnissen. Als junger Mann hatte er drei Jahre in England gelebt und sprach fließend Englisch. Gräfer brauchte einen Dolmetscher. "Die Amerikaner haben Gräfer dann gefragt, ob er verhandeln könne. Sie forderten aber, mit einem Offizier zu sprechen und sicherten dem Parlamentär freies Geleit zu. Daraufhin sind Gräfer und ich zur Kaserne gefahren."

Dort, in der Bleidorn-Kaserne, hatte der deutsche Kampfkommandant Hauptmann Heckmann sein Hauptquartier. Lüpke: "Unterwegs sagte mir Gräfer: ,Ich habe mit Heckmann gesprochen. Wenn wir zur Kaserne fahren, kommt ein Offizier mit zurück.'"

Doch die Hoffnung trog. Heckmann ließ die beiden Unterhändler auf der Stelle verhaften und mit einem Pkw Richtung Hamelner Straße bringen. Was in diesen Minuten genau geschah, konnte nie ganz geklärt werden. Angeblich hat Heckmann Gräfer angeschrien: "Das kostet Sie Ihren Kopf" und Lüpke mit Sondergericht gedroht. Der Offizier selbst hat später ausgesagt, er habe gesagt: "Das ist Landesverrat. Ich muss Sie verhaften." Herbert Lüpke selbst kann den Wortlaut des Gesprächs nicht mehr genau wiedergeben.

An der Hamelner Straße mussten die beiden auf einen Lkw steigen und sollten nach Barntrup gebracht werden. Lüpke erinnert sich: "Der Lkw war ein Holzvergaser. In Höhe des Rieperturmhofs hielt er an, um wieder Gas zu sammeln." Zwei Bewacher seien abgestiegen. "In diesem Moment fuhr der Wagen wieder an. Die Soldaten schrien, aber der Fahrer, ein Lemgoer, rief zurück, er könne erst oben auf dem Berg wieder anhalten. Als etwa 20 bis 30 Meter zwischen dem Wagen und den Bewachern waren, sind wir abgesprungen und nach links Richtung Maibolte in den Wald gelaufen."

Die Idee zu der Flucht habe Gräfer gehabt. Lüpke ließ erst den Bürgermeister springen, dann rannte er hinterher, die beiden trennten sich im Wald. "Ich habe nie in meinem Leben zuvor und danach solche Angst gehabt wie in diesem Moment. Ich rechnete damit, dass die Soldaten auf uns schossen."

Das taten sie nicht. Doch während Herbert Lüpke die Flucht gelang, wurde Wilhelm Gräfer gestellt und wieder festgesetzt. Lüpke floh vor seinen Häschern durch den Stadtwald und versteckte sich dann nahe des Weißen Weges in einer Zimmerei. Später am Nachmittag kehrte er über den Spiegelberg zurück in die Stadt. Prompt wurde er an den Kasernen wieder festgenommen, diesmal allerdings von den Amerikanern. Sie waren inzwischen ohne nennenswerten Widerstand in die Stadt einmarschiert, denn Heckmann hatte die "Loslösung" vom Feind befohlen, die deutschen Truppen hatten sich zurückgezogen, nachdem ihre erste Verteidigungslinie - ironischerweise direkt an Lüpkes Anwesen - überrollt worden war.

Teil 2 folgt

Anmerkung von www.hiergeblieben.de: Teil 2: "Das letzte Geleit / Die letzten Stunden des Lemgoer Bürgermeisters Wilhelm Gräfer im April 1945" und Teil 3: "Ein brüchiges Denkmal / Die Kontroverse um Bürgermeister Gräfer" sowie Teil 4: "Ein Mann im Geflechte der Stadtelite / Das Interview mit Hanne und Klaus Pohlmann - Letzter Teil der Gräfer-Reihe" erschienen am 08., 17. und 23. April 2004 in der Lippischen Landes-Zeitung und sind auf dieser Hompage ebenfalls dokumentiert.

03./04.04.2004
Lemgo@lz-online.de

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