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Gütersloher Volkszeitung / Die Glocke , 10.11.2009 :

Eindringliche Gesänge gegen das Vergessen

Rheda-Wiedenbrück (gans). Als "Sammelsurium des Todes, mit einem Tag bedacht" beschreibt Irena Wachendorff in ihrem Gedicht "Gedenktage" ihr Unbehagen am offiziell verordneten Innehalten. Und doch ist gerade dieser Abend in St. Aegidius, an dem die Bonner Lyrikerin ihre Gedichte im Wechsel mit Briefen der 1943 hingerichteten Widerstandskämpferin Sophie Scholl vorlas, und das Ensemble "Canta Filia" Vertonungen von Texten beider Frauen durch Christoph Martin Redel uraufführte, ein Beispiel für gelingendes Gedenken: In stillem Ernst und jenseits aller Betroffenheitsduselei.

Am Vorabend des 9. Novembers, als vor 71 Jahren die Nationalsozialisten mit Pogromen der deutschen Bevölkerung ein für alle mal klar machten, dass für die Juden unter ihnen kein Platz mehr sei, wirkten die "Gesänge gegen das Vergessen" um so eindringlicher. Dabei hatte der Komponist seinen Zyklus "Schattenmond - Endzeitgesänge für acht Frauenstimmen" gar nicht in Hinblick auf diesen Tag komponiert. Das Auftragswerk von "Canta Filia" sollte ursprünglich zu den Detmolder Feierlichkeiten der Varus-Schlacht den Begriff "Mythos" behandeln.

Doch wie von selbst schienen die Gedichte von Irena Wachendorff die Texte von Sophie Scholl anzuziehen. Fast konnte man den Eindruck gewinnen, die Dichterin habe sie als heutiges Echo auf die zum Teil sehr poetischen Briefe und Tagebuch-Eintragungen des bekanntesten Mitglieds der Widerstandsgruppe "Die weiße Rose" geschrieben.

Christoph Martin Redel, Professor für Komposition an der Detmolder Musikhochschule, hat aus zwölf Texten beider Autorinnen einen Zyklus gefügt, der die aphoristische Kürze der Wachendorff-Texte zu vielstimmig schillernden Klangstelen des Gedenkens verwandelte. Wie etwa in "Ummauert" die engmaschigen Akkorde geschichtet wurden, deutete das Gedicht in klaustrophobischer Dringlichkeit aus. Eher erzählend wurden die Texte Scholls behandelt.

Die Partitur strotzt nur so vor Schwierigkeiten, dass man leider befürchten muss, dass sich nur wenige Ensembles von solchem Rang wie "Canta Filia" dieser beeindruckenden Musik annehmen werden. Um so glücklicher, dass man diesen Zyklus am Sonntag in der gut besuchten Kirche unter der präzisen Leitung von Barbara Grohmann in solch atemberaubend atmosphärischer Spannung und stimmlicher Brillanz zu Gehör bekam.

Höchst gelungen war überhaupt die Konzeption des Abends: Einstimmige Gesänge von Hildegard von Bingen waren ideale Einstimmung und Ausklang des Konzerts. Jürgen Wüstefeld kontrapunktierte an der herrlichen Speith-Orgel mit einer bezwingenden Deutung von Musik aus der dritten Orgelsinfonie von Alexandre Guilmant. Er begleitete "Canta Filia" auch bei zwei wunderschönen Mendelssohn-Chören. Die waren hier wohl auch aus Anlass seines 200. Geburtstags programmiert, erinnerten aber in diesem Zusammenhang daran, dass es den Nationalsozialisten für Jahrzehnte gelungen war, die Musik des zum Protestantismus konvertierten Juden aus dem deutschen Musikleben zu verbannen.

So war dieses nach einer Schweigeminute mit Standing Ovations bedachte Konzert nicht nur ein Gedenken, sondern setzte ein Zeichen dafür, dieses Unrecht an Mendelssohn nicht weiter fortzuschreiben.


gt@die-glocke.de

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