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Bielefelder Tageblatt (OH) / Neue Westfälische , 08.02.2008 :

"Eine Sternstunde" im Gymnasium / Schriftsteller und Zeitzeuge Edgar Hilsenrath las

Von Thomas Güntter

Brackwede. Für den Stellvertretenden Schulleiter Andreas Siekmann war es "eine Sternstunde". In der Aula des Gymnasiums Brackwede las gestern einer der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwartsliteratur: Edgar Hilsenrath. Er war zusammen mit seinem Verleger Volker Dittrich in die Schule gekommen.

Hilsenrath, geboren am 2. April 1926 in Leipzig, ist nicht nur Schriftteller, sondern auch Zeitzeuge, denn er ist einer wenigen Überlebenden des rumänischen Ghettos Mogilev-Podolsk, das auf dem Gebiet der heutigen Ukraine lag. Möglich geworden war der Besuch, weil Referendar Ken Kubota (31) den Schriftsteller gut kennt.

Während seines Studiums in Berlin wurde Kubota von einem Dozenten auf das Buch "Der Nazi und der Friseur" von Edgar Hilsenrath aufmerksam gemacht. Kubota verschlang das Werk und war fortan von dem gesamten Werk Hilsenraths begeistert. Für eine Berliner Zeitung interviewte Kubota den Dichter. Aus der lockeren Bekanntschaft wurde im Laufe der Jahre eine Freundschaft. Hilsenrath lebt in Berlin.

Er ist Sohn eines Kaufmanns und wächst in Halle an der Saale auf. Vor der Reichspogromnacht fliehen er, seine Mutter und sein jüngerer Bruder nach Sereth in der Bukowina (Rumänien). Der Vater sollte nachkommen. Das jedoch wurde durch den Kriegsausbruch unmöglich. Er gelangt ins französische Lyon, wo er den Krieg überlebt. 1941 werden Hilsenrath, seine Mutter, sein Bruder und alle Verwandten und Freunde aus Sereth in das Ghetto Mogilev-Podolsk deportiert.

Im März 1944 befreien russische Truppen das Lager. Hilsenrath wandert zu Fuß bis nach Sereth und von dort weiter nach Czernowitz. Über die Organisation Ben Gurion gelangt er zusammen mit weiteren Überlebenden und fremden Pässen nach Palästina.

Dort lebt er als Gelegenheitsarbeiter, wird jedoch nicht heimisch und beschließt 1947 zu seiner wieder vereinten Familie nach Frankreich auszuwandern. In den fünfziger Jahren emigriert die ganze Familie nach New York. Hier jobbt er wieder und schreibt seinen ersten Roman "Nacht". Darin schildert er seine Erfahrungen als Überlebender auf grausam realistische Weise. Hilsenrath hat mit der Erstveröffentlichung des Romans große Schwierigkeiten. Jedenfalls in Deutschland.

Ähnlich ergeht es ihm in der ersten Zeit mit der Groteske "Der Nazi und der Friseur". Über 60 deutsche Verlage lehnen das Buch, das 1968/69 erscheint, ab. Die englische Übersetzung wird in den USA und England ein Riesenerfolg. Ende 1977 erbarmt sich sich der kleine Kölner Verlag Helmut Braun. Die erste Auflage von 10.000 Exemplaren ist schnell vergriffen. Das Buch wird unter anderem von Heinrich Böll 1977 sehr positiv besprochen. Mittlerweile sind mehr als 250.000 Exemplare verkauft, der Roman erscheint in 22 Ländern und 16 Sprachen.

Bildunterschrift: Schriftsteller und Zeitzeuge: Edgar Hilsenrath und Referendar Ken Kubota, der den Dichter nach Brackwede holte.


lok-red.bielefeld@neue-westfaelische.de

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