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Lippische Landes-Zeitung , 15.05.2017 :

"Eine Ehre, mit 90 noch anerkannt zu werden"

Feierstunde: Am heutigen Montag begeht Lemgos Ehrenbürgerin Karla Raveh ihren Geburtstag / Das lange Leben hat sie Kraft gekostet, doch ihre Botschaft leuchtet hell und klar: Man muss mit seinem Schicksal Frieden machen / Und vergeben können, nicht vergessen

Von Judith Stracke

Lemgo. Karla Raveh wird heute 90. Sie ist eine der letzten Zeitzeugen des Holocausts, Lemgos einzige Ehrenbürgerin und erste Trägerin der Engelbert-Kaempfer-Medaille, womit ihre Verdienste für Völkerverständigung und Menschenrechte gewürdigt wurden. Vor allem aber ist Karla Raveh eines: ein wunderbarer Mensch, der berührt.

Vor einer Woche ist die Lemgoerin der Herzen aus Israel angereist. Sie wollte es so: ihren 90. Geburtstag dort feiern, wo sie geboren ist und wohin sie seit 30 Sommern für jeweils ein paar Wochen zurückkehrt. In Lemgo will sie an den Holocaust erinnern. "Damit so etwas nie wieder passieren kann", sagt sie.

Als sie vor einer Woche in die Echternstraße einbiegt, strahlt sie. Erschöpft, aber fröhlich. "Mir ist so, als wäre ich gar nicht weg gewesen." Weg von ihrer Heimat und der geliebten Trauerweide auf dem Wall, nur ein paar Steinwürfe von ihrer Wohnung.

Hier hat sie gespielt - hier war ihr Paradies. Hier war sie glücklich. Bis Hitler mit seinen Schergen kam ... und ihre Familie umbrachte. "Zwölf Jahre, die die Welt verändert haben", sagt Karla Raveh heute. Zwölf Jahre, die ihr Paradies zerstörten und ihr die Familie nahmen. Nach der Hölle als Jugendliche in vier Konzentrationslagern kehrt sie Lemgo den Rücken. "Es war nicht mehr mein Zuhause - ohne meine Familie", sagt sie. Sie findet in Israel eine neue Heimat. Der Weg in ihre Geburtsstadt zurück führt über das, was sie so gut kann und ihre Aufgabe nennt: sich zu erinnern, zu erzählen, einzustehen für Menschlichkeit. Ohne moralischen Zeigefinger. Ohne Redemanuskript. Frei heraus. Aus dem Herzen. Für die, die ihr am Herzen liegen: die junge Generation.

Die findet sie in der Gesamtschule, die nach ihr benannt ist. Dort gratulieren heute im Beisein ihres Sohnes Michael nicht nur Bürgermeister Dr. Reiner Austermann, Landrat Dr. Axel Lehmann, Schulleiter Bernd Hendig, sondern viele weitere geladene Gäste. "Es ist eine Ehre, mit 90 Jahren noch anerkannt zu werden", meint sie.

Äußerlich scheint Karla Raveh zerbrechlich geworden. Von ihrer inneren Stärke hat sie nichts verloren. Ihre Botschaft steht für sich: "Man muss mit seinem Schicksal Frieden machen." Frieden, den sie über Gott findet. Vergeben, aber nicht vergessen. Karla Raveh rührt mit jedem Wort. Sie ist authentisch, klar, deutlich.

"Deutschland bemüht sich sehr, damit so etwas nicht mehr passiert. Das zeigt auch die Flüchtlingspolitik. Das hat meine Hochachtung", bekennt sie. Liebe säen, nicht Hass schüren. Teilen, verzichten können. Das hat Karla Raveh verinnerlicht. Das lebt sie. In Tivon, wie in Lemgo. Dafür pendelt sie hin und her, auch wenn ihr die Reisen immer mehr zusetzen. "Lemgo kostet mich viel Kraft", gibt sie zu.

Persönlich

Karla Raveh wurde am 15. Mai 1927 in Lemgo geboren. Am 28. Juli 1942 deportierten die Nazis sie mit ihren Eltern, drei Geschwistern und beiden Großmüttern nach Theresienstadt. Sie überlebte mit einer der Großmütter das Grauen verschiedener Lager und kehrte 1945 heim. 1949 heiratete sie Szmuel, einen polnischen Juden, und wanderte nach Israel aus. Dennoch kehrt sie im Sommer oft zurück nach Lemgo. 1998 wurde Raveh Namensgeberin der Gesamtschule. 2003 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz, 2015 als einzige Ehrenbürgerin Lemgos die Engelbert-Kaempfer-Medaille. Geburtstag feiert sie an der Seite von Sohn Michael in der Gesamtschule mit geladenen Gästen. "Ich bitte um Verständnis, dass ich am Geburtstag nicht erreichbar bin", sagt sie. Passend dazu ist von Museumsleiter Jürgen Scheffler das neue Buch "Das Frenkel-Haus" im Hexenbürgermeisterhaus erhältlich.

Bildunterschrift: Bilder eines bewegenden Lebens: Karla Raveh im Laufe der Jahrzehnte (oben) sowie (unten, von links) bei einer Holocaust-Gedenkveranstaltung in Israel mit zwei ihrer Urenkel, mit Mann Szmuel und ihren Söhnen Michael (links) und Danny sowie mit Lemgos Bürgermeister Dr. Reiner Austermann beim Eintrag ins Goldene Buch.


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