www.hiergeblieben.de

Höxtersche Zeitung / Westfalen-Blatt , 26.10.2012 :

"Eine Geschichte von Faszination und Verachtung" / Professor Klaus Bogdal berichtet im Pins Forum über "Zigeuner" in Europa

Von Wolfgang Braun

Höxter (WB). Professor Klaus-Michael Bogdal, Bielefeld, hilft mit seinem Buch "Europa erfindet die Zigeuner - eine Geschichte von Faszination und Verachtung" die weit verbreitete Unkenntnis über die so genannten Rom-Völker aufzuhellen. Er hat in einem Vortrag im Forum Jakob Pins aus dem Werk aufschlussreiche Ergebnisse vorgestellt.

Mit der Einweihung des Mahnmals für die im Dritten Reich ermordeten Sinti und Roma am Mittwoch im Berliner Tiergarten wird erst jetzt ein Zeichen gesetzt dafür, dass die Gräueltaten an dieser Volksgruppe unvergessen bleiben sollen. Die Diskriminierung von Angehörigen der so genannten Rom-Völker hat aber längst noch nicht aufgehört. Die aktuellen Debatten über Zigeuner-Flüchtlinge aus Ungarn, Tschechien, der Slowakei und aus Ex-Jugoslawien beweisen das.

Als vor 600 Jahren dunkelhäutige, südländisch anmutende Männer und Frauen plötzlich vor den Toren von Städten in ganz Europa standen, wusste keiner, woher die später Sinti oder Roma genannten Völker stammten. Bockdal, ein Literaturwissenschaftler, erläuterte, dass erst in der Aufklärung am Ende des 18. Jahrhunderts durch sprachwissenschaftliche Studien des Göttinger Gelehrten Heinrich Grellmann festgestellt werden konnte, dass die Rom-Völker aus Indien eingewandert waren. Ihre Sprache hat Ähnlichkeiten mit dem indischen Sanskrit.

In den ersten Jahrhunderten nach der Einwanderung empfand die Umwelt die Zigeuner als Bedrohung und reagierte mit Abwehr. Man hielt sich die fremd anmutenden Menschen auf Abstand, dichtete ihnen magische Fähigkeiten an. Die Umwelt "erfand" die Zigeuner, hielt sie grundsätzlich für Bettler und Gauner, bezichtigte sie des Kindsmords. Selbst Gelehrte ordneten sie in der Völkerhierarchie ganz unten, noch hinter den Hottentotten, den Papuas und Eskimos als Nichtentwicklungsfähige ein. In der Romantik Anfang des 19. Jahrhunderts änderte sich das etwas: Insbesondere Zigeunerinnen wurden als literarische Figuren entdeckt. Von Ludwig Tieck gibt es eine Erzählung, in denen Zigeuner, die streng getrennt von anderen Menschen lebten, wunderbare Kräfte zuerkannt wurden. Nachdem sie nämlich ihren "Tannengrund" verlassen hatten, verödete das gesamte Land, der Wohlstand verschwand. Auch in Figuren wie "Carmen" oder dem "Zigeunerbaron" findet diese romantisch verklärende Sichtweise ihren Niederschlag. An der alltäglichen Diskriminierung änderte das aber nichts.

Auf den Holocaust, der einer halben Million Zigeunern das Leben gekostet hatte, ging Bogdal nicht weiter ein. Vielmehr lenkte er den Blick auf die Diskriminierung der Zigeuner in der Gegenwart. So habe zwar beispielsweise der Schriftsteller Günter Grass eine Stiftung für Sinti und Roma ins Leben gerufen. Wenn er Vertreter dieser geheimnisumwitterten Minderheiten etwa in "Die Blechtrommel" oder "Hundejahre" auftreten lässt, bedient er sich aber der gängigen Vorurteile.

Wie sehr Bogdal mit seinem sehr informativen, detailreichen und lebendigen Vortrag auf großes Interesse seiner Zuhörerschaft stieß, merkte man an der regen Diskussion am Schluss des Abends.

Bildunterschrift: Professor Klaus-Michael Bogdal aus Bielefeld.

___________________________________________________


Neue Westfälische, 26.10.2012:

Pressestimmen / Denkmal für ermordete Sinti und Roma

Hannoversche Allgemeine

Hannover. Es gibt Tage, da trifft Geschichte auf Gegenwart - und prallt hart an ihr ab. Am Mittwoch hat Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin das Mahnmal für die halbe Million von Nationalsozialisten verfolgten und ermordeten Sinti und Roma eingeweiht. Am heutigen Donnerstag sucht Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich bei einem Ministertreffen in Luxemburg nach Wegen, wie Deutschland die Nachkommen der soeben Geehrten möglichst fernhalten kann: Deutsche Innenexperten wollen so schnell wie möglich die Visumsfreiheit für Serbien und Mazedonien wieder aufheben. Wann traten Widersprüche und Heuchelei im Umgang mit einer diskriminierten Minderheit je so unverhohlen zutage?

___________________________________________________


Badische Zeitung, 25.10.2012:

Sinti und Roma / Leitartikel: In ganz Europa wird geheuchelt

Von Norbert Mappes-Niediek

Könnte man heute eine Rede zum Völkermord an den Juden halten und morgen nach Moskau fliegen, um den russischen Präsidenten davon zu überzeugen, dass er keine russischen Juden nach Deutschland reisen lässt? Nein, das könnte man zum Glück nicht. Man kann aber heute ein Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma einweihen und morgen zu einem EU-Gipfel reisen und dort - wegen der vielen von dort kommenden Roma - den Beitrittskandidaten Serbien und Mazedonien mit der Wiedereinführung der Visumpflicht drohen.

Sind Roma Opfer zweiter Klasse? Wollen wir aus dem Völkermord an ihnen keine Lehren ziehen? Wir haben aus der Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der deutschen Sinti und der osteuropäischen Roma tatsächlich nicht die richtigen Lehren gezogen. Die Sinti und Roma wurden unter den Nazis aus zwei Gründen verfolgt: aus rassischen und aus so genannten ordnungspolitischen Gründen. Zum einen waren sie Opfer der Vorstellungen von "Rassereinheit" und genetisch höher- und minderwertigen Völkern. Zum anderen hatten die Nazis die strengen, oft zwanghaften Ordnungsvorstellungen der Kaiserzeit geerbt und radikalisiert. Die "Landfahrerverordnungen", Polizeischikanen und Ausweisungsbeschlüsse des 19. Jahrhunderts richteten sich nicht speziell gegen "Fremdvölkische", sondern allgemein gegen Arme. Arme ziehen mangels Bleibe umher, betteln, bauen sich Hütten ohne Baugenehmigung; das alles durfte - und darf - nicht sein.

Die rassische Diskriminierung ist heute verpönt, der Affekt gegen Arme aber in voller Blüte. Wenn 60 Prozent der Deutschen keine Roma als Nachbarn haben wollen, so hoffentlich nicht, weil sie rassistisch wären. Man will aber nicht mit einer Familie auf der Etage wohnen, die von den Verhältnissen zu zehnt in eine Dreizimmerwohnung gezwungen ist und sich den Lebensunterhalt mit Müllsammeln verdienen muss.

Für das soziale Problem und die Schwierigkeiten eines solchen Zusammenlebens hat niemand eine Lösung. An dieser Stelle kommt der verpönte Rassismus durch die Hintertür wieder herein. Mit dem Phänomen Armut wollen wir uns nicht auseinandersetzen. Die einen finden es bequem, die Armut mit den "kulturellen" Eigenschaften der Roma zu erklären. Wenn den Roma von wahnwitzigen Forschern mindere Intelligenz zugesprochen wird, darf man auch wieder von Rassismus sprechen. Die anderen prangern die mangelnde Toleranz der Mehrheit an. Wenn aber die Armut das größte Problem der südosteuropäischen Roma ist, die in unsere Städte kommen, dann ist nicht Toleranz gefragt. Armut gehört bekämpft, nicht toleriert.

Man bekämpft sie auch nicht, indem man die Armen bekämpft, wie es deutsche Regierungen bis in die 1960er Jahre getan haben. Das "ordnungswidrige" Verhalten der Opfer ist bei näherem Hinsehen nicht Ausfluss einer besonderen Kultur, sondern Überlebensstrategie; niemand bettelt aus Berufung. Damit Menschen nicht zur Entwicklung solcher Strategien gezwungen sind, muss man ihre Grundbedürfnisse erfüllen. Wenn es aber um Roma geht, wird in ganz Europa tüchtig geheuchelt. Die westeuropäischen Innenminister tun so, als wollten sie den Betroffenen helfen und mahnen die Osteuropäer, sie sollten ihr "Roma-Problem" lösen und die Menschen nicht länger diskriminieren. Dabei übersehen sie geflissentlich, dass hier nicht ein ominöses "Roma-Problem" zu lösen ist, sondern eine Herkulesaufgabe wartet: Seit 1990 sind ganze Landstriche verödet, Millionen Menschen, so gut wie alle Roma, aber auch viele andere, in eine sich verstetigende Armut gerutscht. Als Problem wird diese Armut nur empfunden, wenn sie sich zeigt. Wer aber von der Armut nicht sprechen will, soll zum Völkermord, zum Rassismus der Nazis und einer Scham der Nachgeborenen lieber schweigen.

___________________________________________________


Süddeutsche Zeitung, 24.10.2012:

Denkmal für Sinti und Roma / Damals ermordet, heute verfolgt

Ein Kommentar von Heribert Prantl

Die toten Sinti und Roma haben nun ihr Denkmal. Die lebenden werden auch in Deutschland kaserniert und abgeschoben. Während die Bundeskanzlerin der bis zu 500.000 Ermordeten gedenkt, überlegt der Bundesinnenminister, wie man sich die Enkel und Urenkel vom Leib hält.

Die toten Sinti und Roma haben jetzt ein Denkmal; heute wird es in Berlin eingeweiht. Die lebenden Sinti und Roma haben fast nichts; sie haben keine Arbeit, keine Wohnung, keinen Schutz und keine Hilfe. In Ungarn, Rumänien und Bulgarien, Mazedonien und Serbien werden sie schikaniert und verfolgt, in Deutschland und Frankreich kaserniert und abgeschoben - dorthin, wo sie wieder schikaniert und verfolgt werden.

Die Bundeskanzlerin gedenkt heute vor dem neuen Denkmal der bis zu fünfhunderttausend Sinti und Roma, die von den Nazis ermordet worden sind. Der Bundesinnenminister überlegt derweil, wie man sich in Deutschland die Enkel und Urenkel der Ermordeten am besten vom Leib hält.

Vor eineinhalb Jahren hat zum ersten Mal ein Sinto im Bundestag reden dürfen. Der alte Herr sprach vom vergessenen Holocaust an seinem Volk; mit dem Denkmal wird dieser Holocaust dem Vergessen entrissen. Der alte Herr klagte über die anhaltende Diskriminierung seines Volks; daran hat sich nichts geändert. "Wir sind doch Europäer!" hat Zoni Weisz gerufen. Die EU, die sich als Raum des Rechts, der Sicherheit und Freiheit begreift, muss den Sinti und Roma genau dies geben: Recht, Sicherheit, Freiheit.

Abschiebepolitik ist eine Aus-den-Augen-aus-dem-Sinn-Politik. Der Sinn des neuen Denkmals ist daher auch ein Appell: denk mal - darüber nach, wie aus Verachtung Achtung werden kann.


hoexter@westfalen-blatt.de

zurück