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Mindener Tageblatt , 11.08.2022 :

Documenta statt Dachs I

Per Lkw touren die Arolsen Archives durch Deutschland und zeigen Fotos von Menschen kurz vor der Deportation / Aus aktuellem Anlass steht der Wagen nun in Kassel und kommt erst 2023 nach Porta

Thomas Lieske

Porta Westfalica / Kassel. Eigentlich wäre der graue Oldtimer-Lkw demnächst in Porta Westfalica vorgerollt. Doch als die Antisemitismus-Debatte bei der Documenta in Kassel aufkam, entschied sich die Arolsen Archives spontan zu einem Schlenker auf ihrer Deutschland-Tour. Kassel statt Porta Westfalica. Und das nicht ohne Grund.

Denn in dem grauen Lastwagen werden ganz bestimmte Fotos ausgestellt. Private Fotos von Menschen kurz vor ihrer Deportation durch die Nazis. "#LastSeen" nennt sich deshalb diese Mini-Ausstellung mit ausdrucksstarken Bildern, die berühren sollen. Die deutlich machen sollen, wie diese darauf abgebildeten Menschen kurz nach der Aufnahme aus ihrem bis dahin unbeschwerten Leben gerissen wurden. "Aus Anlass des antisemitistischen Eklats rund um die Documenta hat der Lkw, der zur Zeit durch Deutschland tourt, seine Route kurzfristig geändert, um in Kassel ein deutliches Zeichen gegen Antisemitismus zu setzen", erklären die Verantwortlichen um Archiv-Direktorin Floriane Azoulay. Konkret geht es dem Archiv, das sich als weltweite Aufklärungsorganisation und Archiv für Opfer der Deportation versteht, um die als antisemitisch eingestuften Banner sowie von einigen Gästen kritisierten ausgestellten Kunstwerke.

Und wie ist nun die Verbindung zwischen der Fotoausstellung und der Kritik an diesen Kunstwerken gemeint? Die Fotos würden die abgebildeten Menschen kurz vor einer dramatischen Lebenswendung zeigen. An einem Punkt, an dem aus Hass (der Nazis gegen die Juden) Taten werden (Deportation). Antisemitismus, in welcher Form auch immer, müsse immer bekämpft werden. Azoulay forderte dazu auf, auch die Frage des strukturellen Antisemitismus und seiner Verharmlosung in kulturellen Institutionen in den Blick zu rücken und dieses Problem aktiv anzugehen.

Das Archiv möchte sensibilisieren. Porta Westfalica sei als Ort für eine solche Ausstellung durch seine Vergangenheit mit dem Nazi-Stollen Dachs I im Jakobsberg genau richtig. Dort mussten unzählige Zwangsarbeiter ihre Arbeit unter schlimmsten Bedingungen verrichten, die im Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme in Barkhausen festgehalten wurden. Etliche Zeitzeugen-Berichte haben bisher schon einen Eindruck davon vermittelt, wie grausam diese Zeiten damals waren.

Archiv sucht an Ausstellungsorten nach weiteren Fotos.

Die Fotoausstellung ist Teil einer Initiative der Arolsen Archives zusammen mit vier Partnern, bei der es um die Suche nach bisher unbekannten Fotos von NS-Deportationen und ein tieferes Verständnis der Bilder geht. Bisher sind rund 550 Fotos von NS-Deportationen aus knapp 60 Orten bekannt. Ziel von "#LastSeen" ist es, diese Bilder virtuell zusammenzuführen, weitere Fotos zu finden und Hintergründe zu recherchieren, um den Verfolgten ihre Namen und Geschichten zurückzugeben. Der Lastwagen macht auf die Initiative aufmerksam und bittet Freiwillige, sich an der Suche vor Ort zu beteiligen. Erste Ergebnisse werden Ende 2022 in einem digitalen Bildatlas veröffentlicht. Ergänzend dazu wird für Schülerinnen und Schüler ein interaktives Lernspiel angeboten.

All das hätte das Team gern schon in diesem Jahr in Porta - und dann später auch in Petershagen - präsentiert. Daraus wird nun nichts mehr, wie Sprecherin Dr. Anke Münster auf MT-Anfrage mitteilt. Vermutlich im kommenden Jahr werde der Lastwagen mit den besonderen Fotos dann in Porta Westfalica vorrollen.

Der Autor ist erreichbar unter Telefon (0571) 882267 oder Thomas.Lieske@MT.de.

Bildunterschrift: Mit diesem Lkw wollen die Arolsen Archives auch nach Porta Westfalica kommen. Der Halt verzögert sich allerdings wegen des Zwischenstopps auf der Documenta bis ins kommende Jahr.


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Vom 25. Juli bis zum 14. September 2022 ist die Ausstellung "LastSeen. Bilder der NS-Deportationen" der Arolsen Archives - aus Anlass des antisemitistischen Eklats bei der documenta fifteen, in Kassel zu sehen.

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www.arolsen-archives.org

www.gedenkstaette-porta.de


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