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Neue Westfälische - Bad Oeynhausener Kurier , 06.08.2022 :

Der Wochenkommentar / Auf einen groben Klotz ein grober Keil

Manchmal braucht es ein Fanal - ein wahrlich schreckliches, damit wir die Dinge nicht aus den reizüberfluteten Augen verlieren: Am vergangenen Freitag wurde die österreichische Allgemeinmedizinerin Lisa Maria Kellermayr tot in ihrer Praxis in Seewalchen am Attersee gefunden. Ihre Abschiedsbriefe machen kein Geheimnis daraus, dass sich die Impfärztin das Leben genommen hat, weil ihr so genannte "Querdenker" nachstellten, sie und ihre Mitarbeiter mit dem Tod bedrohten, weil die Ärztin sich für die Corona-Impfung ausgesprochen hatte. Der Hass und die Häme der radikalen Impfgegner verstummte noch nicht einmal nach dem Freitod der Medizinerin; auf Telegram feiern sie die Selbsttötung wie einen Sieg. Zu Maria Kellermayrs Vermächtnis zählt aber auch eine bitter-resignative Anklage adressiert an die österreichischen Strafverfolgungsbehörden, die offenbar nicht willens oder in der Lage waren, die Medizinerin vor ihren Feinden zu schützen.

Geographisch Versierte mögen einwenden, Ostwestfalen sei nicht Oberösterreich. Oder vielleicht doch: Ein Querdenker wollte Bad Oeynhausens Bürgermeister Lars Bökenkröger als "Hochverräter" aufhängen, nachdem der Bürgermeister öffentlich zum Impfen aufgerufen hatte. Die Hoffnung auf den Tag der Abrechnung mit der andersdenkenden Mehrheit ist übrigens nicht neu. Und hat stets mit unwidersprochenen Drohungen begonnen. Der Aufmarsch von "Spaziergängern" vor dem Wohnhaus von Landrätin Anna Katharina Bölling erinnerte den Superintendenten des Evangelischen Kirchenkreises Minden, Michael Mertins, an den Untergang der Weimarer Republik: "Alles begann mit der Einschüchterung von Demokraten." Das und viele weitere kleine und große Provokationen der so genannten Querdenker-Szene wird angesichts von Krieg, Inflation und Klima-Krise schnell vergessen. Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch: Seit 50 Jahren kennen die Deutschen diesen Satz von Bertolt Brecht. Er steht im Epilog des Theaterstücks "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui" und vielleicht ist er aktueller denn je.

Das Amtsgericht verhandelt gegen den mutmaßlichen Kopf der so genannten "Spaziergänger" aus der Kurstadt. Und schon am ersten Prozesstag wird deutlich, dass der Angeklagte weder Verfahren noch Gericht sonderlich ernst nimmt. Dass die Buchstaben des Gesetzes nicht immer taugen, den Geist der Gesetze zu transportieren, zeigt sich daran, dass die "Spaziergänger" die Versammlungsfreiheit bewusst beugen können. Weil sie sich nicht "versammeln", sondern spontan spazieren gingen, müssten sie ihre Spaziergänge nicht anmelden, behaupten sie. Es gäbe also keinen Organisator. Warum die Polizei dann Spaziergänge schützt, die keine Versammlungen im Sinne des Versammlungsgesetzes sein wollen, verdankt sich wohl einer Form der Deeskalation, wie sie im CDU-geführten nordrhein-westfälischen Innenministerium gepredigt wird. In ihren Chat-Gruppen überschütten "Querdenker" jedenfalls die Polizisten, die ihre Spaziergänge flankieren müssen, nach wie vor mit Häme.

Wer glaubt, dass der Widerstand gegen die Corona-Politik erlahmt ist, weil die Schar der Spaziergänger sich deutlich verringert hat und die Gegendemonstrationen gleich ganz eingestellt wurden, weil man wohl meinte, genug getan zu haben, der irrt. Der harte Kern der "gesundheitsfördernden Spaziergänge zur ausschließlichen Zurschaustellung des Freiheits- und Zusammengehörigkeitsgefühls" ist immer noch unterwegs und sammelt seine Kräfte für die nächste Offensive. Man muss kein Prophet sein, um zu unken, dass die Spalter spätestens im Herbst wieder Zulauf bekommen. Ihnen dürfte übrigens herzlich egal sein, ob man sich wieder auf das Virus und dessen Bekämpfung wird berufen können. Die Gegenwart bietet jenen, die auf ihre Komplexität mit Simplifizierungen reagieren, genug Anknüpfungspunkte.

Doch zu verstehen ist das nur, wenn man die "Spaziergänge" als flankierende und provozierenden Akte eines groß angelegten Versuchs betrachtet, die freiheitlich-demokratische Grundordnung aus den Angeln zu heben. Es scheint fast so, als haben die selbsternannten "Querdenker" einen Weg gefunden, mit den Mitteln des Rechtsstaates gegen den Rechtsstaat vorzugehen. Dem bleibt dann nur, die Rädelsführer wegen einer unangemeldeten Demo zur Verantwortung zu ziehen.

Das wirklich perfide an dieser Taktik ist die Opferrolle, die die Täter einnehmen. Jene, die in den (a)sozialen Medien keine Gelegenheit auslassen, Menschen zu beleidigen und zu verunglimpfen, die sich einen Wortschatz angeeignet haben, den man glaubte, aus der deutschen Sprache verbannt zu haben, reagieren im wirklichen Leben wie Mimosen auf Kritik. Doch manchmal gilt halt des Dichters Einsicht: "Auf groben Klotz ein grober Keil! / Auf einen Schelmen anderthalbe."

goed@nw.de

Bildunterschrift: Die unter Impf-Kritikern und Corona-Leugnern kursierenden Verschwörungserzählungen thematisiert dieses Plakat, das auf einer Gegendemonstration in Bad Oeynhausen gezeigt wurde.

Bildunterschrift: Thorsten Gödecker.

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Am 23. August 2022 wird vor dem Amtsgericht Bad Oeynhausen der Prozess gegen einen 41-jährigen Bad Oeynhausener wegen Volksverhetzung sowie wegen Verwendens verfassungswidriger Symbole fortgesetzt.

Am 18. August 2022 wird am Amtsgericht Bad Oeynhausen der Prozess gegen einen Corona-Leugner, als "faktischer Versammlungsleiter" - vom 31. Januar bis 21. Februar 2022 in Bad Oeynhausen - fortgesetzt.

Am 5. August 2022 verkündete die Staatsanwaltschaft, Ermittlungen gegen "Telegram" - "Freie Nordrhein-Westfalen"-Post an Bad Oeynhausens Bürgermeister: "Auf Hochverrat droht der Strick" - seien eingestellt.

Am 5. August 2022 begann vor dem Amtsgericht Bad Oeynhausen der Prozess - gegen einen 41-jährigen Bad Oeynhausener - wegen Volksverhetzung, sowie wegen des Verwendens verfassungswidriger Symbole.

Am 2. August 2022 begann beim Amtsgericht Bad Oeynhausen der Prozess gegen einen Corona-Leugner, als "faktischer Versammlungsleiter", zwischen dem 31. Januar und 21. Februar 2022, in Bad Oeynhausen.

Am 14. Mai 2022 soll ein 41-jähriger Mann in Bad Oeynhausen das Fenster seiner Wohnung geöffnet und antisemitische und rassistische Parolen ("Scheiß Juden" und "fuck Farbige") nach draußen gerufen haben.

Am 25. Dezember 2021 wurde auf "Telegram" - "Freie Nordrhein-Westfalen" - dem Bürgermeister von Bad Oeynhausen, nach einer Aufforderung zur Corona-Impfung, mit "Auf Hochverrat droht der Strick" gedroht.

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06./07.08.2022

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