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Lebenslaute , 24.08.1998 :

Bielefeld: Gewaltfreie Aktion für Rechte von Flüchtlingen

Der 24. August 1998 bot den Mitarbeitern der Bielefelder Ausländerbehörde einen ungewöhnlichen Tagesanfang. Uneingeladen gaben im Bielefelder Rathaus an diesem Montag Morgen ungefähr 30 MusikerInnen ein klassisches Konzert, um auf die Situation von Flüchtlingen und MigrantInnen in Deutschland aufmerksam zu machen. Die Gruppe, die sich ,,Lebenslaute" nennt, und deren Aktivisten aus ganz Deutschland kommen, forderte die Mitarbeiterinnen der Ausländerbehörde auf, "Sand im Getriebe des staatlichen Rassismus" zu sein, so eine Sprecherin der Gruppe. Schon seit 1986 leisten die Berufs- und Hobbymusikerinnen der "Lebenslaute" mit gewaltfreien Aktionen Widerstand gegen Menschenrechtsverletzungen, Militär und Umweltzerstörung. Die Mitwirkenden arbeiten bereits seit zwei Jahren zu der Asylpolitik der BRD. In diesem Jahr sehen sie sich mit ihrer Aktion als Teil der Kampagne "Kein Mensch ist illegal" und unterstützen die "Karawane für die Rechte von Flüchtlingen und MigrantInnen".

Seit August zieht die Karawane durch Deutschland und wird noch bis Mitte September auf die Situation der Flüchtlinge und MigrantInnen aufmerksam machen und darüber informieren. Die Karawane ist ein Bündnis aus Flüchtlingsgruppen und Unterstützerlnnen aus ganz Deutschland und prangert mit Aktionen in vielen deutschen Städten klar die entrechtete Lage von Flüchtlingen und MigrantInnen an. Diese sind entrechtet, weil:

- das Grundrecht auf Asyl faktisch durch den Asylkompromiss 1993 abgeschafft wurde;
- Flüchtlinge nur 80 Prozent der Sozialhilfe bekommen, und sich dadurch zum Beispiel keinen Anwalt für ihr Asylverfahren leisten können;
- Flüchtlinge immer noch trotz Gefahr für Leib und Leben abgeschoben werden, obwohl den Verantwortlichen genaue Schilderungen der momentanen Menschenrechtslage vorliegen;
- MigrantInnen bei der Arbeitsuche benachteiligt werden und sie nicht wählen dürfen.

So werden Flüchtlinge und Migrantlnnen schnell illegalisiert.
Dieses Problem greift die Kampagne "Kein Mensch ist illegal" auf. Sie schreibt in ihrem Aufruf "Ihr sollt wissen, dass kein Mensch illegal ist. Das ist ein Widerspruch in sich. Menschen können schön sein oder noch schöner. Sie können gerecht sein oder ungerecht. Aber illegal? Wie kann ein Mensch illegal sein?" (Eli Wiesel)

Um "der Hetze gegen die 'Illegalisierten' praktische Solidarität entgegenzusetzen und damit politisch in die Offensive zu gehen" (Presseinformation der Kampagne vom 15. Oktober 1997), haben sieh mehr als 30 Gruppen und Organisationen aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Orientierungen zusammengeschlossen. Die Kampagne dient der Vernetzung regionaler und lokaler Ansätze, die schon seit Jahren für und mit Flüchtlingen und Migrantlnnen arbeiten und sich für deren Rechte einsetzen.

In dem Kampagnen-Aufruf steht weiter:

"In entrechtetem, ungesichertem oder illegalisiertem Status zu leben, bedeutet die ständige Angst vor Denunziation und Erpressung, weil die Entdeckung Bestrafung, Abschiebehaft oder die sofortige Abschiebung zu Folge hat. Es bedeutet völlige Schutzlosigkeit gegenüber Behörden ( ... ), aber auch im Falle von Krankheit. ( ... ) Es bedeutet ständig auf der Hut zu sein. ( ... ) Jeder Mensch hat das Recht, selbst zu entscheiden, wo und wie er leben will."

Die Kampagne stellt klar, dass die derzeitige Politik der systematischen Verweigerung von Rechten der Forderung nach Gleichheit aller Menschen unabhängig von Herkunft oder Papieren gegenübersteht.

Mit ihrem Aufruf macht die Kampagne deutlich, wo jeder seine Verantwortung suchen kann und "Illegalisierte" unterstützen kann:

"Wir rufen dazu auf MigrantInnen bei der Ein- oder Weiterreise zu unterstützen. Wir rufen dazu auf MigrantInnen Arbeit und Papiere zu verschaffen. Wir rufen dazu auf MigrantInnen medizinische Versorgung, Schule und Ausbildung, Unterkunft und materielles Überleben zu gewährleisten. Denn kein Mensch ist illegal."

Die Aktionsgruppe Lebenslaute hat mit ihrem Konzert die MitarbeiterInnen der zuständigen Behörden dazu aufgerufen, ihren Beitrag zu dem Abschiebevorgang und dem Leben der Menschen unter entrechteten Bedingungen zu verweigern. Deshalb hat die Lebenslaute das "Amt für Ausländerangelegenheiten" in Bielefeld als eine "ganz normale Ausländerbehörde" für seine Aktion ausgewählt, um den dort Mitarbeitenden Mut zu machen als Sand im Getriebe der Abschiebemaschienerie zu fungieren. Es wurden Sandsäckchen verteilt, mit deren Inhalt eine Zahnradmaschine symbolisch zum Stehenbleiben gebracht werden konnte.

Aber nicht nur symbolisch, sondern auch durch ihr Musikprogramm haben die Musikerinnen der Lebenslaute politische Zeichen gesetzt. Ein Großteil der aufgeführten Werke war von KomponistInnen, die selbst das Schicksal der Flucht erleben mussten. So wurden unter anderem Musikstücke von Ruth Schonthal -Amerikanerin deutschjüdischen Ursprungs, geb. 1924 in Hamburg - und Ernst Joch, 1887 in Wien geboren, aufgeführt. Beide Künstler wurden von den Nationalsozialisten verfolgt.

Nachdem die Konzertaktion vor der Ausländerbehörde erfolgreich beendet war, und einige Angestellte sich zumindest getraut hatten zuzuhören, wurde die Aktion teilweise in der Bürgerberatung und in der Fußgängerzone wiederholt, um noch ein breiteres Publikum zu erreichen und dieses für die Situation "Illegalisierter" zu sensibilisieren.


info@lebenslaute.de

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