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Lippische Rundschau , 11.11.2002 :

Gedenkfeier zum Jahrestag der Reichspogromnacht an der Mahnstätte Synagoge / "Jeder muss Verantwortung übernehmen"

Lemgo (HFP). Vor 64 Jahren sind die Nationalsozialisten erstmals öffentlich mit Gewalt gegen die Juden in Deutschland vorgegangen. Damals brannten 200 Synagogen, Friedhöfe und unzählige Häuser von Juden wurden zerstört, tausende Menschen verhaftet, 91 Menschen wurden in jener Nacht ermordet. Am Jahrestag der Reichspogromnacht versammelten sich am Samstag etwa 100 Lemgoer zum Gedenken an der Mahnstätte Synagoge in der Neuen Straße.

Zuvor hatten sich die Teilnehmer am Frenkel-Haus in der Echternstraße eingefunden, um anschließend schweigend zur Gedenkstätte zu gehen. "Sechs Jahrzehnte sind vergangen seit dem Völkermord, sechs Jahrzehnte zwischen Verdrängen und Verschweigen einerseits, aber auch Aufarbeiten und Verantwortung übernehmen andererseits", sagte Bürgermeister Dr. Reiner Austermann in seiner Ansprache.

"Kein Betriebsunfall"

Alle demokratischen Parteien in Deutschland würden sich seit Jahrzehnten zu dieser Verantwortung bekennen. Und doch habe man vor wenigen Monaten eine Antisemitismus-Debatte in Deutschland erleben müssen. Einzelne hätten versucht, dumpfe Gefühle zu wecken. "Schlimmer noch - sie haben versucht, uns weiszumachen, es sei schick und modern, wenn sich die Nachkriegsgeneration von der Verantwortung freispricht", sagte der Bürgermeister. Dieses Bestreben sei erfolglos geblieben. Niemand könne und dürfe sich der Verantwortung entziehen.

"Wir dürfen nicht zulassen, dass der Nationalsozialismus gewissermaßen als deutscher Betriebsunfall in den Geschichtsbüchern verschwindet", mahnte Austermann und: "Wir dürfen nicht zulassen, dass die Verbrechen, die in deutschem Namen geschahen, durch unzulässige Vergleiche mit aktuellen oder historischen Ereignissen relativiert werden. Wir müssen unseren Kindern von der deutschen Geschichte erzählen, nicht damit sie Schuldgefühle entwickeln, sondern damit sie begreifen, dass aus der Geschichte auch für sie persönlich eine Verantwortung erwächst."

Pastorin Angelika Martin forderte dazu auf, Inhalte zu präzisieren, wie Fremdenfeindlichkeit, der wieder aufgekeimte Rechtsextremismus, wie Rassismus überwunden, wie den Fremden, den Flüchtlingen ein menschenwürdiges Zuhause in der Stadt gegeben werden und damit eine Nacht wie die des 9. November 1938 nicht mehr vorkommen kann, "nicht in Gedanken, nicht im Tun".

Mahnende Worte von Schülern der Karla-Raveh-Gesamtschule und der Heinrich-Drake-Schule sowie Musikbeiträge der Musikschule Lemgo und des Posaunenchores umrahmten die Gedenkfeier.


wb@westfalen-blatt.de

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