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Lippische Landes-Zeitung , 19.10.1985 :

Bis heute keinerlei Aufarbeitung von Sinti-Schicksalen im Dritten Reich

Sozialpädagogin: "Ein Skandal" - Sintis: Reisegewerbe, statt von Sozialhilfe leben

Lage. Angekündigt und kurzfristig vom Pottenhauser "Siekkrug" ins alte Amtsgericht gelegt war eine Podiumsdiskussion mit sachkundigen Kennern der Problematik der "Sinti und Roma". Alle brachten den guten Willen für eine Diskussion mit, aber nicht alle die Kenntnis der örtlichen Problematik, die ja auslösend für diese Informationswoche über die "Zigeuner" war: die Konfrontation zwischen Sinti oder Roma mit der Pottenhauser Bevölkerung und die Sperre des privaten Platzes für Landfahrer, über die sich mehrere Gruppen hinweggesetzt hatten. Die Zuhörerschar war vielschichtig: Kommunalpolitiker, Pottenhauser Bürger, Bielefelder Studenten der Sozialpädagogik, eine in Lage ansässige Sinti-Gruppe und schließlich Mitglieder der DKP, die sich bereits im Sozialausschuss massiv gegen "Rassismus" und für die Rechte der Landfahrer eingesetzt hatten.

Zu einer Podiumsdiskussion mit einem Streitgespräch der Experten aber kam es nicht, sie stellten sich nur kurz vor und sprachen die Gründe an, die sie mit der Sinti-Problematik verbanden - dann brachen im Auditorium die Emotionen durch. Einige Pottenhauser verließen demonstrativ den Raum, als die DKP-Leute offensichtlich die Gelegenheit zur ideologischen Propaganda benutzten und den "Schwarzen Peter" den Parlamentariern und der Verwaltung zuschoben.

Eingangs hatte Bürgermeister Niebuhr hervorgehoben, dass es in unserer Gesellschaft keine Minderheiten geben dürfe, die ausgeschlossen blieben. MdL Manfred Böcker, Kulturausschuss-Vorsitzender im Landtag, sprach den Prozess zur Selbstfindung bei den Sinti und Roma an. Viele Sinti-Familien in NRW seien in einer Umbruchphase zwischen Sesshaftigkeit und Weiterziehen. "Wir müssen über die Politik eine Negativ-Gesetzgebung für Minderheiten abbauen und das Aufeinanderzugehen ermöglichen!"

Das sah auch die Pottenhauser Gemeindepfarrerin Dorothea Pohl als einzigen Weg. "Es wird sehr lange dauern, bis die gegenseitigen Vorurteile überwunden sind, aber wir dürfen nicht aufgeben!"

Siegfried Franz vom Vorstand des Verbandes Deutscher Sinti in Hannover blendete wie bei der Ausstellungseröffnung auf die Dauerschäden durch die Zeit im KZ und seine Sorge zurück, dass bei seinem Volk erneut Hassgefühle aufbrechen könnten. Das ständige Umherreisen sei durch den ambulanten Handel bedingt, der auf Grund vielfältiger Benachteiligungen die einzige noch mögliche Existenzsicherung darstelle.

Außerdem diene das Reisen im Sommer der Kommunikation in Kultur und Sprache seiner Volksgruppe. Sie fordere daher die Nutzung von bestehenden öffentlichen Plätzen für reisende Sinti-Familien. "Wir wollen nicht von der Sozialhilfe leben!" Bei der Suche nach einem Arbeitsplatz gebe es von vornherein die Abstemplung "schwer zu vermittelnde Person"! Miranda Klump von der Sinti-Beratungsstelle Hannover berichtete von den Problemen der zu ihr kommenden Sinti-Familien.

Outsider in der Runde, Frau Prof. Dr. Bott-Bodenhausen, die an der FH Bielefeld einen Lehrstuhl für Sozialpsychologie und speziell für Minderheiten innehat. Beim Thema "Sinti" und der Aufbereitung ihrer Geschichte sei sie in unerforschtes Gebiet vorgestoßen, vor allem für die Zeit des Dritten Reiches - das ist ihrer Meinung nach ein Skandal. Sie will versuchen, eine Dokumentation zusammen mit ihren Studenten aufzubauen: "Wir müssen die alternativen Kulturen dieser Minderheiten erhalten, sie bereichern ein Volk!"

Die Soziologin streifte die gespaltene Haltung der Deutschen gegenüber "Zigeunern" und die bestehenden Klischees und kam auf die klinisch nachgewiesenen Folgeschäden der KZ-Jahre sowie die Überlebenssyndrome, die seelisch auf folgende Generationen weiterwirken - das sei wissenschaftlich eine Realität!

Als letzter verlas Erich Giebel von der Regionalgruppe Detmold für bedrohte Völker einen anonymen Brief rassistischen Inhalts - das trug nicht zur Verständigung bei.


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