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Bielefelder Flüchtlingsrat , 20.10.2003 :

Zweiter Redebeitrag auf der Demonstration in Herford: "Stoppt die Abschiebung von Ömer und Ali Demir!"

Ömer und Ali Demir sollen nun nach über acht Jahren in Deutschland in die Türkei abgeschoben werden. Wie viele andere Flüchtlinge sind sie durch das ausgesprochen grobmaschige und löchrige Netz der asylrechtlichen Regelungen in Deutschland durchgefallen. Alle Löcher deutlich zu machen, wäre ein eigener Vortrag. Daher möchte ich hier nur einige besonders große Löcher erwähnen.

In Deutschland wird ein Verfolgter nur dann als Flüchtling nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt oder er erhält Schutz nach der Europäischen Menschenrechtskonvention, wenn die Verfolgung eindeutig vom Staat und seinen Institutionen ausgeht. Das wird übrigens in den meisten anderen europäischen Ländern anders gesehen. In Deutschland ist jedoch die Frage entscheidend, "Wer verfolgt?" und nicht "Ob jemand verfolgt ist".

So hatten Asylsuchende aus Afghanistan, die vor der Gewalt durch die Taliban flohen, ebenso Pech, wie Flüchtlinge aus Somalia, Kongo, Algerien und anderen Ländern, die vor der Gewalt nichtstaatlicher Gruppen fliehen mussten. Sie wurden - und das ganz gesetzestreu - zu abgelehnten Asylbewerbern. Das bedeutet, sie sind ausreisepflichtig und werden bestenfalls noch geduldet.

Gibt es jedoch einen funktionierenden Staat, dann ist in den Ablehnungsbescheiden nicht selten zu lesen, dass der schlagende, tretende Polizist nicht im Auftrag seines Staates gehandelt habe und es sich daher nur um einen sogenannten Amtswalterexzess handle. Also nur um die Tat einer einzelnen gewalttätigen Person, die leider zufällig Polizist ist.

Ein anderer Ablehnungsgrund ist die sogenannte "innländische Fluchtinitiative". So werden zum Beispiel Tschetschenen, die aus ihrem Dorf vor der Gewalt durch Polizei oder Militär fliehen mussten, auf eine inländische Fluchtalternative verwiesen. Da helfen auch zahlreiche Berichte angesehener Menschenrechtsorganisationen über dauernde Polizeikontrollen, Festnahmen und Übergriffe gegen Tschetschenen in den anderen Teilen Russlands nichts. Asylanträge von Tschetschenen werden abgelehnt. Wer nicht abgeschoben wird, lebt in dauernder Angst vor der drohenden Abschiebung.

Und auch die Flucht vor Krieg ist kein Asylgrund!

Und dann?

Für abgelehnte Asylbewerber gilt ihr Aufenthalt in Deutschland als unrechtmäßig.

Rechtmäßig sind dagegen weitgehende Beschränkungen:

- ihnen wird der Wohnort vorgeschrieben - in der Regel das konkrete Zimmer in einem festgelegten Asylheim - (so zum Beispiel in Schloß Holte-Stukenbrock der
Container neben dem Schießplatz der Polizei auf dem Gelände des ehemaligen Stalag);
- sie erhalten nur akut notwendige medizinische Versorgung;
- sie dürfen sich nur in einer vorgeschriebenen Region in Deutschland frei bewegen;
- sie haben faktisch fast keine Chance, eine Arbeitserlaubnis zu erhalten;
- sie erhalten wesentlich geringere Sozialleistungen als normale SozialhilfeempfängerInnen.

Wer trotz dieser Lebensbedingungen bleibt, bei wem die gewünschte Abschreckung nicht funktioniert - und auch nicht funktionieren kann, weil das eigene Leben im Herkunftsland existentiell bedroht ist, oder, weil aufgrund der dort erlebten Gewalt eine Rückkehr undenkbar ist, - der ist in Deutschland als "abgelehnter Asylbewerber" quasi lebenslänglich zur Duldung verurteilt - bis seine Abschiebung dann möglich ist!

Es sind keine Einzelfälle, dass Menschen seit 15 und mehr Jahren nur mit einer "Duldung" in Deutschland leben - und permanent mit ihrer Abschiebung rechnen müssen.

Sogenannte "Altfallregelungen", die den Übergang zu einem Bleiberecht ermöglichten, waren an harte Bedingungen geknüpft, die nur wenige erfüllen konnten. Während es zum Beispiel in Italien, Frankreich und Belgien für illegal Eingewanderte, ganz ohne gültige Papiere, immer mal wieder Möglichkeiten gibt, ein Bleiberecht zu erhalten, sind solche Möglichkeiten in Deutschland bisher vollkommen Tabu. Bei uns gelten Buchstaben, Paragraphen und Papiere mehr als Menschen und ihr Recht auf Leben ohne die Gefahr, Opfer von Willkür und Übergriffen zu werden.

Vor zwei Jahren kritisierte die Süßmuth-Kommission die Praxis der Kettenduldung und die prekären Lebensverhältnisse der mehr als 200.000 Geduldeten in Deutschland. Vor allem auf das Schicksal der Kinder, die hier zur Schule gehen, die hier ihre Freunde haben und das Land ihrer Eltern nicht mehr kennen, wurde darin hingewiesen. Nach Abschluss der Schule landen sie unweigerlich auf der Straße. Ihnen wird die Zukunft zerstört. Das Arbeitsrecht versperrt ihnen den Zugang zu einer Ausbildung, zu einem Arbeitsverhältnis.

Die Reaktion auf diese keinesfalls linke Kritik war der Entwurf für ein Zuwanderungsbegrenzungsgesetz, das die stark kritisierte "Duldung" abschafft. Das ist konsequent und ist anscheinend ein Zeichen von Lernfähigkeit: Statt der Duldung soll es demnach in Zukunft nur noch eine "Bescheinigung über die Aussetzung der Abschiebung" geben. Diese Bescheinigung bedeutet ein klares Arbeitsverbot (man könnte sagen, es ist human, da es den Betroffenen die vergebliche Suche erspart). Für die "Bescheinigten" sind zur effektiveren Durchsetzung der Ausreisepflicht - wenn es das Bundesland denn so will - neue Ausreisezentren vorgesehen. Diese Ausreisezentren bedeuten, dass die Menschen aus dem sozialen Umfeld, in das sie sich über Jahre integriert haben, herausgerissen werden. Sie sind dann ohne jedes soziales Netzwerk dem weiteren Verwaltungshandeln ausgeliefert. Demonstrationen wie heute hier, werden dann der Vergangenheit angehören!

Bei den Ausländerbehörden (und auch bei ihren Chefs, den Innenministern) hat die Kritik an der Praxis quasi lebenslänglicher Duldungen nicht dazu geführt, vermehrt Ermessenspielräume zu Gunsten der Betroffenen zu nutzen oder gar zu erweitern.

Es ist im Ausländerrecht (§ 30,3 beziehungsweise § 4) die Möglichkeit vorgesehen, dass Geduldete unter bestimmten Umständen eine Befugnis und damit einen rechtmäßigen Aufenthalt erhalten können. Eine solche Befugnis gibt zumindest die Chance auf ein Bleiberecht. Mit einer Duldung ist und bleibt man eine Loserin - ein Chancenloser!

Alleine in Ostwestfalen gab es in diesem Jahr drei Selbsttötungen von Menschen, die den enormen psychischen Druck, die extreme Angst vor der drohenden Abschiebung nicht mehr ausgehalten haben. Ein Mann, der sich ebenfalls mit Benzin übergoss und anzünden wollte, wurde nach dem zum Glück verhinderten Versuch zügig in die Türkei abgeschoben. Viele Geduldete hat die jahrelange Angst, die permanente Abhängigkeit vom Wohlwollen der BehördenmitarbeiterInnen psychisch und körperlich zermürbt.

Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland steht in Artikel 1 Satz 1:

"Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."

Und in Artikel 2 Satz 1 und erster Teil Satz 2 heißt es:

"Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit."

Dieses Recht, diese Verpflichtung ist im Grundgesetz ausdrücklich nicht abhängig von der jeweiligen Staatsangehörigkeit - oder gar Hautfarbe. Es ist ein Recht, das jedem aufgrund seines Menschseins zusteht!

Jeder/jede Verantwortliche sollte alle Ermessenspielräume nutzen, um diesen Grundsätzen zu ihrem Recht zu verhelfen. - Und - wo diese nicht reichen - auch weiter gehen!

Es darf nicht sein, dass MitarbeiterInnen, die die Unmenschlichkeiten bei der Durchsetzung der bestehenden Gesetzespraxis für Ausländer und Flüchtlinge nicht aushalten, die Ausländerbehörden und Sozialämter verlassen. Wir schaffen Strukturen von Vollstreckern, mit letztlich fatalen Folgen für die gesamte Gesellschaft.

Es muss eine Gegenbewegung gegen diese zunehmende Tendenz geben! Und damit meine ich nicht zuletzt, die sich in der letzten Zeit deutlich radikalisierende Abschiebepraxis!

- Wir fordern ein Asylrecht und vor allem eine Praxis, die Sicherheit und Grundrechte für alle Flüchtlinge - und ihre Familien! - gewährleistet!
- Wenn eine Rückkehr in ihr Herkunftsland nicht möglich ist, müssen die Betroffenen möglichst bald einen sicheren und gleichberechtigten Status erhalten.

Wir schaden uns selbst, wenn wir es uns leisten, Menschen jahrelang in zentralen Lebensfragen rechtlich auszugrenzen und zu diskriminieren.

Pro Asyl hat eine Kampagne für ein Bleiberecht begonnen. In der aktuellen Unterschriftenaktion heißt es:
"Eine Abschiebung nach langjährigem Aufenthalt ist eine unzumutbare Härte. Sie wird den humanitären Grundsätzen, zu denen wir uns immer wieder bekennen, nicht gerecht. Zu tragischen Folgen führt dies bei Einzelnen wie bei ganzen Familien."

- Wir fordern hier ein Bleiberecht für Ali, Mehmet und Ömer Demir!


fluechtlingsrat-bi@web.de

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