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11 Artikel , 30.11.2021 :

Pressespiegel überregional

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Übersicht:


Jüdische Allgemeine Online, 30.12.2021:
Ehrung / Chanukka für die Überlebenden

Bayerischer Rundfunk, 30.11.2021:
NSU in Franken: Ausspähnotizen und Todeslisten

Nürnberger Nachrichten Online, 30.11.2021:
"Tür offen, ohne Schloß": Brisante Ausspähnotizen des NSU gefunden

Belltower.News, 30.11.2021:
1990 / Steckt eine "Anti Kanaken Front Kempten" hinter dem Mord an einem Fünfjährigen?

Störungsmelder, 30.11.2021:
Rechtsextremismus in Kempten / Polizei sucht Zeugen 30 Jahre nach rassistischem Anschlag

Neues Deutschland Online, 30.11.2021:
Ortstermin in Fretterode / Gericht besichtigte Tatort des Nazi-Überfalls auf zwei Journalisten

MiGAZIN, 30.11.2021:
Bespuckt, bedroht, beleidigt / Handy-Video zeigt Rassismus auf offener Straße

Blick nach Rechts, 30.11.021:
Einschlägige Teilnehmer auf Demo in Rotenburg

Mitteldeutscher Rundfunk, 30.11.2021:
Erneut unerlaubte Corona-Proteste in Erfurt

t-online.de, 30.11.021:
Beleidigender Post gegen Seenotretterin / Verfahren gegen AfD-Landeschef Höcke eingestellt

Süddeutsche Zeitung Online, 30.11.2021:
Landtag / AfD-Abgeordneter Josef Seidl tritt aus der Partei aus

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Jüdische Allgemeine Online, 30.12.2021:

Ehrung / Chanukka für die Überlebenden

30.11.2021 - 10.52 Uhr

Die jährliche International Holocaust Survivors Night findet am Dienstagabend online statt

Die jährliche International Holocaust Survivors Night (IHSN) findet in der dritten Nacht von Chanukka, am Dienstag, 30. November, um 19 Uhr Mitteleuropäischer Zeit, online statt. Dabei sollen auch in diesem Jahr die Holocaust-Überlebenden weltweit geehrt werden. Dies gab die Jewish Claims Conference heute im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen bekannt.

Die Veranstaltung umfasst Erinnerungen von Überlebenden aus mehr als 15 Ländern sowie Grußworte des israelischen Präsidenten Isaac Herzog sowie von Bundesfinanzminister Olaf Scholz, Bundesjustizministerin Christine Lambrecht, des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, der Holocaust-Überlebenden Charlotte Knobloch, Serge Klarsfeld und anderen sowie Beiträge von Musikern und Entertainern. (ja)

Bildunterschrift: Die Veranstaltung umfasst Erinnerungen von Überlebenden, darunter auch die von Serge Klarsfeld.

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Bayerischer Rundfunk, 30.11.2021:

NSU in Franken: Ausspähnotizen und Todeslisten

30.11.2021 - 06.10 Uhr

In der konspirativen Wohnung der NSU-Terroristen in Zwickau fanden Ermittler eine gewaltige Datensammlung zu Anschriften in ganz Deutschland. Darunter auch viele Adressen in Mittel- und Oberfranken. Ermittler sehen diese teils als "Todeslisten".

Von Jonas Miller (BR) und Elke Graßer-Reitzner (NN)

A wie Ansbach, B wie Bamberg, C wie Coburg bis Z wie Zirndorf. Kaum ein Ort in der Region, der auf dieser immens langen Liste nicht auftaucht. Im Brandschutt des Zwickauer Wohnhauses, das Beate Zschäpe nach dem Selbstmord von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt am 4. November 2011 in die Luft gejagt hatte, entdeckten die Ermittler neben Stadtplänen mit Markierungen, handschriftlichen Notizen und zwölf Waffen jede Menge elektronische Informationen. Ein gewaltiger Adressen-Satz kam zum Vorschein: Rund 10.000 Anschriften aus dem gesamten Bundesgebiet, auch von Politikern, Partei-Organisationen, Migranten-Vereinen, israelitischen Kultusgemeinden. Als "10.000er-Liste" ging der Fund in die Ermittlungsakten des Bundeskriminalamtes ein.

Anwälte vermuten NSU-Helfer in den Regionen

Anwälte, die die Hinterbliebenen der Mordserie vertreten, bezweifeln, dass nur Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe die Liste angefertigt haben. "Wir gehen davon aus, dass der NSU ein Netzwerk ist und noch viele weitere Mitglieder hatte", sagt der Nebenklagevertreter Sebastian Scharmer aus Berlin. Er fordert, endlich Licht in die Helfer-Strukturen zu bringen.

Auch in Franken könnten Unterstützer behilflich gewesen sein. Denn die Liste ist mehr als eine reine Adressen-Sammlung. Das gemeinsame Recherche-Team von Bayerischem Rundfunk und Nürnberger Nachrichten hat die "10.000er Liste" nun erstmals umfänglich auswerten können. Bislang sind stets nur einige Details an die Öffentlichkeit gedrungen.

Döner-Imbiss, Flüchtlingsunterkünfte, Kommunisten-Büro

In Nürnberg etwa steht eine Asylunterkunft in der Regensburger Straße auf der Liste, versehen mit dem Zusatz: "Viele Häuser, sehr weit draußen, großes Gelände". Auch die Bemerkung über einen Imbiss-Stand im Nürnberger Stadtteil Schafhof hatte Aufsehen erregt: "Problem: Tankstelle nebenan, Türke aus Tankstelle geht in jeder freien Minute zum Reden rüber. Imbiß mit Vorraum." Der Verdacht liegt nahe: Womöglich hatten die Neonazi-Terroristen zuerst einen anderen Imbiss im Visier, ehe sie İsmail Yaşar am 9. Juni 2005 in seinem Verkaufsstand in der Scharrerstraße töteten.

Und es gibt noch weitere Objekte aus Nürnberg auf dieser Liste, versehen mit präzisen Hinweisen. So heißt es über eine Flüchtlingsunterkunft im Stadtteil Sandreuth: "Asylheim, Tür offen ohne Schloß, Keller zugänglich." Neben der Adresse einer weiteren Asylunterkunft im Stadtteil St. Peter steht: "Keine Hausnummer. Linkes Gebäude direkt vor Tunnel. Innenhof." Und bei der DKP, der Deutschen Kommunistischen Partei, die im Stadtteil Gärten hinter der Burg ein Büro betreibt, ist notiert: "EG, großes Fenster, normales Wohnhaus, Nazis verbieten." Das "Nazis verbieten" bezog sich womöglich auf ein Plakat im Schaufenster des Ladens.

Betroffene wissen nicht, dass sie auf der NSU-Liste stehen

Mehr als 50 Adressen aus Nürnberg stehen in der Liste, darunter neun Waffenhändler. Insgesamt findet sich fast kein solches Fachgeschäft in der Region, das den Rechtsterroristen entgangen wäre. Amberg oder Bamberg, Emskirchen, Erlangen, Leutershausen oder Rothenburg, nahezu jeder Waffenladen ist verzeichnet. Er habe keine Ahnung gehabt, dass er markiert worden war, sagt Waffen-Spezialist Hubert Greger aus Neumarkt in der Oberpfalz verblüfft, als er vom BR / NN Recherche-Team davon erfährt. Jedoch sei er gut gesichert, es sei unmöglich, sich bei ihm "etwas zu beschaffen".

Wie er wissen viele Menschen bis heute nicht, dass sie in den Fokus der Rechtsterroristen geraten waren. Der frühere Grünen-Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele und Hans-Jürgen Papier, ehemaliger Chef des Bundesverfassungsgerichts, wurden erst vor kurzem über ihre Namen auf der Liste von Medien informiert und sind nun über die Sicherheitsbehörden empört.

"Man hat nicht immer nur Freunde, wenn man Abgeordnete ist"

Dagegen berichtet die frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Verena Künstel-Wohlleben dem Recherche-Team, dass sie 2011 vom damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU) persönlich in Kenntnis gesetzt worden sei. Künstel-Wohlleben wohnte in den 2000er Jahren in Röthenbach im Nürnberger Land und war Mitglied des Bundestags-Verteidigungsausschusses. Womöglich sei sie auf die Liste geraten, weil sie in Israel ein Krankenhaus betreut habe, mutmaßt sie selbst: "Man hat nicht immer nur Freunde, wenn man Abgeordnete ist."

Womöglich ist sie aber Opfer der offensichtlichen Praxis des NSU geworden, grundsätzlich alle Bundes- und Landtagsabgeordneten von Union und SPD mit Adressen zu vermerken. Der Name der Fürther CSU-Landtagsabgeordneten Petra Guttenberger findet sich ebenso auf der Liste wie der des Erlanger MdB Stefan Müller (CSU), von Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) aus Erlangen und von der früheren Bundesfamilienministerin Renate Schmidt (SPD) aus Nürnberg.

Auch Jüdische Gemeinden und katholische Kirche auf der Liste

Auch der Bundeswehr-Fliegerhorst in Roth, die Bank of America in Bamberg, die Bundeswehr-Kaserne in Bayreuth oder die ehemalige Kaserne der amerikanischen Streitkräfte in der Fürther Südstadt sind genannt. Dazu die islamischen und türkischen Kulturvereine in der Region, viele Flüchtlingsberatungsstellen und die Adressen der Israelitischen Kultusgemeinden in Fürth, Nürnberg und Erlangen sowie der Landesverband Deutscher Sinti und Roma mit Sitz in Nürnberg. Auch die diversen Dienststellen der katholischen Kirche in Bamberg sind auf der Liste aufgeführt, das Ordinariat gleich mehrfach unter verschiedenen, teils falschen Bezeichnungen.

NSU-Opfer war in der Datei "Killer" aufgeführt

Wie gefährlich war die Situation für die Betroffenen? Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) in Köln, das die Liste vom Bundeskriminalamt (BKA) zugestellt bekam, schreibt im November 2011 an alle Landesämter in einer Aktennotiz, die dem Recherche-Team vorliegt: "Nach erster Einschätzung des BKA, die vom BfV geteilt wird, handelt es sich um eine Materialsammlung. Hinweise auf konkrete Planungen zu den jeweiligen Adressen liegen nach derzeitigem Kenntnisstand nicht vor." Womöglich kannten die Sicherheitsbehörden da noch nicht das gesamte Material.

Denn erst vier Monate später, im März 2012, sichtete das BKA einen weiteren dieser Datenträger. Darauf befand sich ein Ordner mit der Bezeichnung "Killer" und ein Unterordner "Datenbank Aktion wichtig!!!". Unter dem Dateinamen "nürn.bmp" entdeckten die Ermittler elektronische Kartenausschnitte aus den Nürnberger Stadtteilen St. Johannis, Altstadt / St. Lorenz, Gostenhof und St. Leonhard. Mit blauen Punkten und Sonnenbrille tragenden Smiley-Symbolen waren zwölf Orte markiert, die sich auch auf der 10.000er-Liste wiederfinden, darunter ein griechisches Restaurant und eine Wohngemeinschaft für Flüchtlingskinder. Abgespeichert wurden die Adressen am 23. Mai 2005. Drei Tage später, am 26. Mai, kam eine 13. Adresse hinzu: die Imbiss-Bude von İsmail Yaşar. Knapp drei Wochen danach ermordete der NSU Yaşar in seinem Verkaufsstand.

Mordopfer Lübcke wurde bereits vom NSU ins Visier genommen

Auch das Büro der DKP taucht in diesem "Aktion wichtig"-Verzeichnis von 2005 auf. Sieben Jahre später, nach der Selbstenttarnung des NSU, landete am 12. November 2011 die Bekenner-DVD der Rechtsterroristen im Briefkasten der DKP. Das braune Kuvert trug eine Briefmarke. Fast zeitgleich kam eine solche DVD auch bei den Nürnberger Nachrichten an. Jedoch hatte ein Unbekannter hier den Umschlag persönlich abgegeben - Beate Zschäpe hatte sich zu dem Zeitpunkt bereits gestellt.

Warum die Terroristen-Gruppe mehr als 10.000 Adressen bundesweit akribisch auflistete, darüber kann nur spekuliert werden. Nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Neonazis ursprünglich Attentate auf Politikerinnen und Politiker oder verschiedene Einrichtungen geplant haben. Auch die Privatadresse des 2019 von einem Neonazi ermordeten CDU-Politikers Walter Lübcke findet sich auf der NSU-Liste. Lübcke war seit Mai 2009 Regierungspräsident in Kassel. Bereits vor 2011 hat das NSU-Netzwerk den Politiker offenbar als potenzielles Opfer ins Visier genommen.

Notizzettel bilden "Todeslisten"

Doch auch einzelne Notizzettel wurden im Schutt des in die Luft gesprengten NSU-Unterschlupfs in Zwickau gefunden. Auf den Notizzetteln sind handschriftliche Notierungen, meist Namen mit Adressangaben aufgebracht. Die Notizen sind teilweise gut, teilweise gar nicht leserlich.

Einer dieser Zettel hat ebenfalls einen direkten Bezug zu Nürnberg. So findet sich der Name eines leitenden Nürnberger Polizeibeamten darauf mit dem Zusatz "Pl Nürnberg Vorgesetzter", mit großem "X" unter dem Namen. Auf dem gleichen Zettel steht, ebenfalls mit einem X hinter dem Namen ein damaliger Staatsanwalt aus München sowie der Name des Leiters einer KZ-Gedenkstätte. Auch mehrere Spitzenpolitiker, Staatsanwälte, Kriminalpolizisten und Journalisten aus ganz Deutschland sind auf den handschriftlich geschriebenen Notizzetteln aufgelistet.

BKA-Beamte kamen zu folgendem Fazit: "Die Notizzettel sind zur Planung und Vorbereitung von Straftaten sowie zur Auswahl von Personen, gegen die sich diese Straftaten richten könnten, geeignet. ( ... ) Vor dem Hintergrund der ideologischen Ausrichtung ( ... ) kann die Erstellung der Notizzettel dem übergeordneten Ziel zur Erstellung von sog. "Todeslisten" gedient haben, auf denen Personen des öffentlichen Lebens und Funktionsträger in Ämtern und Behörden aufgeführt sind mit dem Ziel, diese zu gegebener Zeit ggf. zu liquidieren."

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Nürnberger Nachrichten Online, 30.11.2021:

"Tür offen, ohne Schloß": Brisante Ausspähnotizen des NSU gefunden

30.11.2021 - 06.00 Uhr

Weitere Anschläge in Nürnberg geplant?

Von Elke Graßer-Reitzner (NN) und Jonas Miller (BR)

Nürnberg. Wer hat diesen gewaltigen Datensatz zusammengetragen? Die Rechtsterroristen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) haben bundesweit über 10.000 Adressen auf "Feindeslisten" gesetzt, darunter über 200 aus Nürnberg und der Region. Das gemeinsame Recherche-Team von Nürnberger Nachrichten und Bayerischem Rundfunk hat jetzt die brisanten Daten auswerten können.

A wie Ansbach, Z wie Zirndorf, kaum ein Ort in der Region, der auf dieser immens langen Liste nicht auftaucht. Im Brandschutt des Zwickauer Wohnhauses, das Beate Zschäpe nach dem Selbstmord von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt am 4. November 2011 in die Luft gejagt hatte, entdeckten die Ermittler neben Stadtplänen mit Markierungen, handschriftlichen Notizen und zwölf Waffen jede Menge elektronische Informationen.

Ein gewaltiger Adressen-Satz kam zum Vorschein: Rund 10.000 Anschriften aus dem gesamten Bundesgebiet sind da festgehalten, auch von Politikern, Partei-Organisationen, Migranten-Vereinen und israelitischen Kultusgemeinden. Als "10.000er-Liste" ging der Fund in die Ermittlungsakten des Bundeskriminalamtes (BKA) ein.

Wer hat diese gewaltige Datenmenge zusammengetragen, wer Objekte ausgekundschaftet? Auch zehn Jahre nach der Selbstenttarnung der braunen Terror-Zelle ist dies ungeklärt. Zehn Menschen hat der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) in den Jahren 2000 bis 2007 umgebracht, drei davon in Nürnberg. Hatte die Mörderbande weitere Opfer im Visier?

Anwälte, die die Hinterbliebenen vertreten, bezweifeln, dass nur Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe die Daten gesammelt haben. "Wir gehen davon aus, dass der NSU ein Netzwerk ist und noch viele weitere Mitglieder hatte", sagt der Nebenklagevertreter Sebastian Scharmer aus Berlin. Er fordert, endlich Licht in die Helfer-Strukturen zu bringen.

Recherche-Team hat Liste ausgewertet

In der Metropolregion könnten Unterstützer am Werk gewesen sein. Denn manche Namen und Adressen tauchen mehrfach auf. Das gemeinsame Recherche-Team von Nürnberger Nachrichten und Bayerischem Rundfunk hat die "10.000er-Liste" jetzt erstmals umfänglich auswerten können. Bislang waren nur einige Details an die Öffentlichkeit gedrungen.

So war bekannt, dass in Nürnberg eine Asylunterkunft in der Regensburger Straße auf der Liste stand, versehen mit dem Zusatz: "Viele Häuser, sehr weit draußen, großes Gelände". Auch die handschriftliche Bemerkung über einen Imbiss-Stand in Schafhof erregte Aufsehen: "Problem: Tankstelle nebenan, Türke aus Tankstelle geht in jeder freien Minute zum Reden rüber. Imbiß mit Vorraum".

Weitere Objekte aufgelistet

Der Verdacht liegt nahe: Hatte die Mörderbande zunächst einen anderen Imbiss-Betreiber im Visier, ehe sie Ismail Yasar am 9. Juni 2005 in seinem Verkaufsstand in der Scharrerstraße tötete? Doch es gibt noch weitere Objekte aus Nürnberg auf dieser Liste, ergänzt durch präzise Hinweise.

So heißt es über eine Migranten-Unterkunft in Sandreuth: "Asylheim, Tür offen ohne Schloß, Keller zugänglich." Neben der Adresse eines Flüchtlingsheimes in St. Peter steht: "Keine Hausnummer. Linkes Gebäude direkt vor Tunnel. Innenhof." Und bei der DKP, der Deutschen Kommunistischen Partei, die auch die Kommunistische Arbeiterzeitung herausgab, ist notiert: "EG, großes Fenster, normales Wohnhaus, Nazis verbieten." (Originalzitat).

Über 50 Adressen aus Nürnberg stehen auf dieser Liste, darunter neun Waffenhändler. Überhaupt Waffen: Kein solches Fachgeschäft in der Region, das den Rechtsterroristen entgangen wäre. Amberg oder Bamberg, Emskirchen, Erlangen, Leutershausen oder Rothenburg, nahezu jeder Einzelhändler mit Waffen-Sortiment und Munition ist verzeichnet.

Er habe keine Ahnung gehabt, dass er markiert worden war, sagte Waffen-Spezialist Hubert Greger aus Neumarkt in der Oberpfalz verblüfft, als er vom NN- / BR-Recherche-Team davon erfuhr. Jedoch sei er gut gesichert, es sei unmöglich, sich bei ihm "etwas zu beschaffen".

Hans-Christian Ströbele ist empört

Wie er wissen viele Menschen bis heute gar nicht, dass sie in den Fokus der Rechtsterroristen geraten waren. Der frühere Grünen-Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele und Hans-Jürgen Papier, ehemaliger Chef des Bundesverfassungsgericht, haben erst vor kurzem davon erfahren und sind über die Sicherheitsbehörden empört.

Nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Neonazis ursprünglich Attentate auf Politikerinnen und Politiker oder verschiedene Einrichtungen geplant hatten. Denn die Privatadresse des 2019 von einem Neonazi ermordeten CDU-Politikers und Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke findet sich auf der NSU-Liste.

Dagegen berichtet die frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Verena Künstel-Wohlleben dem Recherche-Team, dass sie 2011 vom damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer persönlich in Kenntnis gesetzt worden ist. Künstel-Wohlleben wohnte in den 2000er Jahren in Röthenbach im Nürnberger Land und war Mitglied des Bundestags-Verteidigungsausschusses.

Womöglich sei sie auf die Liste geraten, weil sie in Israel ein Krankenhaus betreut habe, mutmaßt die Politikerin. "Man hat nicht immer nur Freunde, wenn man Abgeordnete ist", kommentiert sie.

Womöglich ist sie aber Opfer der rechtsradikalen Praxis geworden, grundsätzlich alle Bundes- und Landtagsabgeordneten von Union und SPD mit ihren Adressen zu fixieren. Der Name der Fürther CSU-Landtagsabgeordneten Petra Guttenberger findet sich ebenso in den Daten wie der des Erlanger MdB Stefan Müller (CSU), von Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) aus Erlangen und von der früheren Bundesfamilienministerin Renate Schmidt (SPD) aus Nürnberg.

Amerikanische Streitkräfte im Visier

Zudem sind der Bundeswehr-Fliegerhorst in Roth, die Bank of America in Bamberg, die Bundeswehr-Kaserne in Bayreuth oder die ehemalige Kaserne der amerikanischen Streitkräfte in der Fürther Südstadt genannt. Dazu die islamischen und türkischen Kulturvereine in der Region, viele Flüchtlingsberatungsstellen und die Adressen der Israelitischen Kultusgemeinden in Fürth, Nürnberg und Erlangen sowie der Landesverband Deutscher Sinti und Roma mit Sitz in Nürnberg.

Auch die diversen Dienststellen der katholischen Kirche in Bamberg findet man, das Ordinariat gleich mehrfach unter verschiedenen, teils falschen Bezeichnungen. Wie gefährlich war die Situation für die Betroffenen?

Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) in Köln, das die Adressenliste vom Bundeskriminalamt zugestellt bekam, hält im November 2011 in einer Aktennotiz an alle Landesämter fest, die dem Recherche-Team vorliegt: "Nach erster Einschätzung des BKA, die vom BfV geteilt wird, handelt es sich um eine Materialsammlung. Hinweise auf konkrete Planungen zu den jeweiligen Adressen liegen nach derzeitigem Kenntnisstand nicht vor."

Womöglich kannten die Sicherheitsbehörden da noch nicht das gesamte Material. Denn erst vier Monate später, im März 2012, sichtete das BKA einen weiteren dieser Datenträger, den man ebenfalls im Zwickauer Brandschutt gefunden hatte. Darauf befand sich ein Ordner mit der Bezeichnung "Killer" und ein Unterordner mit dem Titel "Datenbank Aktion wichtig!!!". Unter dem Dateinamen "nürn.bmp" entdeckten die Ermittler elektronische Kartenausschnitte aus den Nürnberger Stadtteilen St. Johannis, Altstadt / St.Lorenz, Gostenhof und St. Leonhard.

Auch griechisches Restaurant wurde markiert

Mit blauen Punkten und Sonnenbrille tragenden Smiley-Symbolen waren 12 Orte markiert, die sich auch auf der 10.000er-Liste wiederfinden, darunter ein griechisches Restaurant und eine Wohngemeinschaft für Flüchtlingskinder. Abgespeichert waren die Adressen am 23. Mai 2005 worden.

Drei Tage später, am 26. Mai, kam eine 13. Adresse hinzu: die Imbiss-Bude von Ismail Yasar. Knapp drei Wochen später ermordete der NSU Yasar in seinem Verkaufsstand.

Bekenner-Video an die DKP gesandt

Auch das Büro der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) taucht in diesem "Aktion wichtig"-Verzeichnis auf. Sieben Jahre später, nach der Selbstenttarnung des NSU, landete im Briefkasten der DKP am 12. November 2011 die Bekenner-DVD der Rechtsterroristen mit dem abscheulichen Paulchen-Panther-Video über die Mordserie. Das braune Kuvert trug eine Briefmarke. Fast zeitgleich kam eine solche DVD auch bei den Nürnberger Nachrichten an. Jedoch hatte ein Unbekannter hier den - unfrankierten - Umschlag persönlich abgegeben.

Auf Notizzetteln mit handschriftlichen Notierungen, die man im zerstörten Wohnhaus des Trios in Zwickau sichern konnte, findet sich ebenfalls ein direkter Bezug zu Nürnberg. So steht findet der Name eines leitenden Nürnberger Polizeibeamten darauf, mit dem Zusatz "Pl Nürnberg Vorgesetzter", mit großem "X" unter dem Namen. Desweiteren sind die Namen eines damaligen Staatsanwalts aus München sowie eines Leiters einer KZ-Gedenkstätte zu lesen.

Bildunterschrift: Nach dem Mord an Ismail Yasar in der Nürnberger Scharrerstraße im Jahr 2005 ist die Spurensicherung der Kriminalpolizei am Werk. Die Adresse des Imbissstandes findet sich auf der Liste von 10.000 Objekten, die der NSU in ganz Deutschland ausgespäht hat.

Bildunterschrift: Zwickau erinnert mit Bildern und Namen der NSU-Opfer auf großen Transparenten an die Getöteten.

Bildunterschrift: Das ausgebrannte Wohnmobil, in dem Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos 2011 in Eisenach starben, steht in der Asservatenkammer des Bundeskriminalamtes.

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Belltower.News, 30.11.2021:

1990 / Steckt eine "Anti Kanaken Front Kempten" hinter dem Mord an einem Fünfjährigen?

Ein Fünfjähriger stirbt 1990 bei einem Brandanschlag in Kempten. Eine "Anti Kanaken Front Kempten" bekannte sich damals zur Tat, dennoch ermittelten die Beamtinnen, Beamten im privaten Umfeld der türkischstämmigen Opfer-Familie. Jetzt, 31 Jahre später, sucht die Kripo erneut nach Zeuginnen, Zeugen und bittet um Hinweise.

Von Kira Ayyadi

In der Nacht vom 17. November 1990 dringen Unbekannte gegen 2.45 Uhr in ein Wohnhaus in der Füssener Straße 24 im allgäuischen Kempten ein. Im hölzernen Treppenhaus verschütten sie vor zwei Wohnungen im zweiten und dritten Stock eine brennbare Flüssigkeit und zünden diese an. Die sechsköpfige Familie S. lebte damals mit anderen Bewohnern türkischer Herkunft in dem dreistöckigen Haus am Rande der Kemptener Innenstadt. Die Journalistin Heike Kleffner berichtete 2020 für Zeit Online von den Ereignissen aus jener Nacht und erzählt die schrecklichen Momente der Familie S. nach:

Ghökan S. (Namen geändert), ein Teenager, der kurz vor seiner Volljährigkeit steht, erwacht durch die Schreie seiner Mutter. Dunkler Rauch wabert durch ihre Wohnung. Er packt seinen fünf Jahre alten Bruder und schleppt ihn, nach Luft ringend, zu einem Fenster. Dort bricht er zusammen. Ihm, seinem Zwillingsbruder Guney, der damals 18-jährigen Schwester Zeynep und der Mutter gelingt der lebensrettende Sprung aus dem Fenster. Zeynep S. hat einen Wirbelbruch, sie entkommt nur knapp einer Querschnittslähmung.

Minuten vergehen, so schildert es Kleffner, bis die Feuerwehrleute verstehen, dass sich der kleine Bruder noch immer im Kinderzimmer befindet, aus dessen Fenstern dichter, schwarzer Rauch quillt. Schließlich retten die Feuerwehr den Jungen mit einer Leiter. Für ihn kommt die Hilfe jedoch zu spät. Er verstirbt wenig später im Krankenhaus an den Folgen einer Rauchvergiftung.

Die Polizei ermittelt im Wohnumfeld

Die Polizei nimmt die Ermittlungen auf, jedoch nur wegen Brandstiftung und nicht wegen Mordes oder Totschlags. Sie ermitteln im Wohnumfeld der Opfer, da sie von einem Streit unter Nachbarn ausgehen. Die Ermittlungen führen zu keinen Ergebnissen und wurden im August 1992 schließlich eingestellt.

Der Fokus auf das nahe Umfeld bei migrantischen Opferfamilien ist nicht ungewöhnlich in ähnlichen Untersuchungen, wie auch die Ermittlungen zu den NSU-Morden zeigen. Auch hier gingen Behörde jahrelang von Täterinnen, Tätern aus dem migrantischen Umfeld der Opfer aus. Erst durch die Selbstenttarnung des NSU stellte sich heraus, dass alle neun Opfer durch das NSU-Netzwerk getötet wurden.

"Anti Kanaken Front Kempten" bekennt sich zur Tat

Kurz nach dem Brand im November 1990 in Kempten bekam die Allgäuer Zeitung ein Schreiben zugeschickt. Eine selbsternannte "Anti Kanaken Front Kempten" bekannte sich darin zu dem Brand. In dem mit Runen und Hakenkreuzen verzierten Schreiben zeigte sie sich verantwortlich für den Brandanschlag: Der "von uns verübte, sehr erfolgreiche Anschlag auf das von Türken bewohnte Haus in der Füssener Straße war erst der Anfang". Dann droht die "Anti Kanaken Front Kempten" weiter: "Wir werden nicht ruhen, bis Kempten von allen undeutschen Kreaturen befreit ist." Und: Kempten werde die "erste Stadt sein", die "nicht von Schwulen, Linken, Ausländern und anderen Schweinen geplagt" werde.

Dr. Ruhland, Pressesprecher der Generalstaatsanwaltschaft München, sagte gegenüber Belltower.News, dass damals schon in Richtung des Bekennerschreibens ermittelt wurde. "Es gab damals aber keine Hinweise darauf, dass eine solche Gruppe mit diesem Namen tatsächlich aktiv war." Außerdem gab es in dem Schreiben der "Anti Kanaken Front Kempten" kein Täterwissen. Es hätte sich daher auch um einen Trittbrettfahrer oder aus dem ganz anderen Lager stammen können, so Ruhland.

Wurde damals ein rassistisches Motiv ausgeblendet?

Wesentlichen Einfluss auf die Ermittlungen hatte das Schreiben offenbar nicht. Es gibt große Zweifel, ob die Ermittelnden von damals ein rechtsextremes Tatmotiv ausreichend verfolgt haben. Sebastian Lipp von "Allgäu rechtsaußen" erzählt gegenüber "Belltower.News" von einem Neonazi, der zur Tatzeit in der Nähe des Hauses gewohnt hat. Er soll aktiv in der 1992 verbotenen Neonazi-Partei "Nationalistischen Front" gewesen sein. Er wurde laut Staatsanwaltschaft nicht überprüft, berichtet "Zeit Online". Und auch weitere Brandanschläge in der Region wurden offenbar nicht berücksichtigt.

Am 6. Oktober 1990 verübten drei Neonazis einen Brandanschlag auf eine Arbeitersiedlung in Kaufbeuren. In der Nacht zum 12. Oktober 1991 zündeten Unbekannte Autoreifen im Treppenflur eines von türkischstämmigen Menschen bewohnten Haus an. Sieben Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Einen Tag später, am 13. Oktober 1991, wurde ein alter Pfarrhof in Immenstadt, in dem Geflüchtete untergebracht waren, bei einem rassistischen Brandanschlag verstört. "Zwei Kurden überlebten schwer verletzt, nachdem sie sich durch einen Sprung aus dem Fenster retten konnten", berichtet der "Störungsmelder". Drei rechte Skinheads wurden als Brandstifter ermittelt.

Ermittlungen wegen Mordes wieder aufgenommen

Ende des vergangenen Jahres hatte die bei der Generalstaatsanwaltschaft München angesiedelte Bayerische Zentralstelle zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus (ZET) die Ermittlungen wegen Mordes wiederaufgenommen, um neue Ermittlungsansätze zu prüfen. Bei der Kriminalpolizei in Neu-Ulm wurde eine Sonderkommission gebildet. Nun lautet der Tatvorwurf nicht mehr schwere Brandstiftung, sondern Mord. Unter Verwendung moderner Ermittlungshilfsmittel soll die "SOKO 1990" versuchen, den Brandanschlag vom 17. November 1990 aufzuklären und Zusammenhänge mit weiteren Anschlägen aus dieser Zeit in der Region prüfen.

Wegen der laufenden Ermittlungen kann die Generalstaatsanwaltschaft jedoch nicht sagen, ob sie von einem rechten Tatmotiv ausgeht. "Bisher sei noch alles offen", so Dr. Ruhland gegenüber Belltower.News. Das Bekennerschreiben steht nun im Fokus der Untersuchung. Die Ermittlerinnen, Ermittler suchen Zeuginnen, Zeugen, die Angaben zur Tat, dem Schreiben oder einer möglichen damaligen Gruppierung "Anti Kanaken Front Kempten" machen können, schreibt das Polizeipräsidium Schwaben Süd / West in einer Pressemitteilung.

Erst 30 Jahre nach dem tödlichen Brandanschlag erfährt die Familie S. durch die Recherchen von "Allgäu rechtsaußen" und "Zeit Online", dass ihr kleiner Sohn Opfer eines Neonazi-Anschlages geworden sein könnte. Eine Geschichte, die so tragisch wie auch bezeichnend ist dafür, wie in Deutschland mit Opfern rechter Gewalt umgegangen wird. Auch wenn die Ermittlungen wegen Mordes mit 30 Jahren Verspätung beginnen, hoffen wir, dass die Täterinnen, Täter von damals gefasst werden können und die Familie endlich Frieden und ein Stück weit Gerechtigkeit erfährt. Mittlerweile wird der Fall auch als Verdachtsfall in der Liste der Todesopfern durch rechte Gewalt seit 1990 der Amadeu Antonio Stiftung geführt.

Bildunterschrift: Rechte Gewalttaten sind "Botschaftstaten": Sie treffen nicht nur die Opfer, sondern sind auch ein Angriff auf die Gruppe, für die die Opfer stehen.

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Störungsmelder, 30.11.2021:

Rechtsextremismus in Kempten / Polizei sucht Zeugen 30 Jahre nach rassistischem Anschlag

30.11.2021 - 12.35 Uhr

Vor drei Jahrzehnten starb ein Fünfjähriger bei einem Anschlag im Allgäu. Nun rollt die Polizei den Fall neu auf - und fahndet nach Tätern aus dem rechtsextremen Milieu.

Von Sebastian Lipp

Deutschland ist gerade seit wenigen Wochen wiedervereint, als unbekannte Täter in Kempten im bayerischen Allgäu losziehen, um ein Haus abzubrennen. In der Nacht auf den 17. November 1990 dringen sie in das Gebäude am Rande der Innenstadt ein, betreten das hölzerne Treppenhaus, verschütten vor den Wohnungen im zweiten und dritten Stockwerk eine brennbare Flüssigkeit und zünden sie an. Der Teenager Gökhan S., seine damals 18-jährige Schwester Zeynep und ihre Mutter retten sich durch einen Sprung aus dem Fenster. Erst Minuten später holen Feuerwehrleute den kleinen Sohn der Familie mit einer Drehleiter aus dem Kinderzimmer, aus dem bereits dunkler Rauch quillt. Der Fünfjährige erliegt später einer Rauchvergiftung.

Kurz darauf bekennen sich Neonazis zu der Tat. Eine Gruppe namens Anti Kanaken Front Kempten brüstet sich in einem Schreiben an eine Lokalzeitung mit dem Anschlag. Doch die Hinterbliebenen erfahren erst 30 Jahre später, dass ihr Sohn Opfer eines rassistischen Anschlags geworden sein dürfte. Anlass sind neue Recherchen von Zeit Online und "Allgäu rechtsaußen". Jetzt sucht die Polizei nach Zeugen, die Hinweise auf die damaligen Täter geben können. Sie erhoffen sich Hinweise auf die Urheber des Briefs.

Mordermittlungen erst nach 30 Jahren

Damals hatte die Staatsanwaltschaft Kempten lediglich wegen schwerer Brandstiftung ermittelt. Trotz des Bekenntnisses stellte die Behörde das Verfahren nach nicht einmal zwei Jahren ein, ohne die Hinterbliebenen zu informieren. In dem Brief, der Zeit Online vorliegt, drohen die Verfasser in Runenschrift und mit Hakenkreuz verziert: "Wir werden nicht ruhen, bis Kempten von allen undeutschen Kreaturen befreit ist." Kempten solle die "erste Stadt sein", die "nicht von Schwulen, Linken, Ausländern und anderen Schweinen geplagt" werde.

Erst nach den Recherchen kam der Fall wieder ins Rollen. Die Zentralstelle zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus der Generalstaatsanwaltschaft München zog das Verfahren Ende 2020 an sich und ließ die Polizei eine Sonderkommission bilden. Heute lautet der Tatvorwurf Mord und rechtfertigt die umfangreichen Ermittlungen noch 30 Jahre nach der Tat.

Der Aufruf der Polizei zeigt indes: Die verbliebenen Ermittlungsansätze sind offenbar ausgeschöpft. Nur eine entscheidende Aussage könnte womöglich die Wende in dem Fall bringen - mehr als drei Jahrzehnte nach der Tat.

Bildunterschrift: Der Rathausplatz von Kempten im Allgäu.

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Neues Deutschland Online, 30.11.2021:

Ortstermin in Fretterode / Gericht besichtigte Tatort des Nazi-Überfalls auf zwei Journalisten

30.11.2021 - 21.30 Uhr

Von Joachim F. Tornau, Fretterode

Es riecht ein wenig nach Landleben, am Zaun schubbert sich ein Wildschwein, Fachwerk überall: So ähnlich stellt man sich ländliche Idylle vor. Doch was in Fretterode wahr wurde, ist eher der völkische Wohntraum im Grünen. Neben dem Gittertor, das den Zugang zum mächtigen Gutshaus im Herzen des kleinen Dorfes versperrt, steht in großen Lettern, wer hier wohnt: Thorsten Heise, stellvertretender Bundesvorsitzender der NPD, Kameradschaftsführer, Konzert-Veranstalter, Online-Händler. Kurz: einer der einflussreichsten Strippenzieher am rechten Rand.

Vor seinem Anwesen im äußersten Nordwesten Thüringens nahm im April 2018 ein Geschehen seinen Ausgang, das Heises Sohn Nordulf H. und seinen politischen Ziehsohn Gianluca B. auf die Anklagebank brachte. Die beiden Neonazis sollen zwei antifaschistische Journalisten, die zu Recherchen in Fretterode waren, erst mit dem Auto gejagt und ihnen dann bei einem brutalen Überfall die Fotoausrüstung geraubt haben.

Am Dienstag wollte sich das Landgericht Mühlhausen einen persönlichen Eindruck von den örtlichen Gegebenheiten verschaffen. Der Ortstermin ist ein besonderes Ereignis, nicht nur für das Dorf mit seinen weniger als 200 Einwohnerinnen, Einwohnern in dem an diesem Dienstagmittag fast jedes Sträßchen von einem Polizeiwagen bewacht wird: Es geschieht äußerst selten, dass Richter bereit sind, ihren Verhandlungssaal zu verlassen.

"Von der Strafkammer wird eine sehr umfassende und gründliche Beweisaufnahme durchgeführt", lobte denn auch Nebenklageanwalt Sven Adam, der einen der betroffenen Journalisten vertritt. Was die Verfahrensbeteiligten im Einzelnen besprachen, als sie im strömenden Regen das Heise-Haus umrundeten, ließ sich allerdings nur erahnen. Die zwei Dutzend Zuschauerinnen, Zuschauer - angereist allesamt, aus dem Dorf ließ sich niemand blicken, auch Thorsten Heise nicht - mussten fünf Meter Abstand halten.

Klar aber wurde: Es ging darum zu klären, von wo aus die Journalisten ihre Fotos gemacht hatten - und ob das auch ohne teure Digitalkamera und Teleobjektiv möglich gewesen wäre. Denn das ist der Strohhalm, an den sich die Verteidigung klammert: Weil die geraubte Fotoausrüstung nie gefunden wurde, soll es sie nicht gegeben haben. Ließe sich das Gericht darauf ein, bliebe Nordulf H. und Gianluca B. zumindest eine Verurteilung wegen schweren Raubs erspart. Allein dafür beträgt die Mindeststrafe fünf Jahre Haft.

Doch wie Nebenklagevertreter Adam im Anschluss berichtete, fiel die Betrachtung von Fotos und Örtlichkeiten so eindeutig aus, dass die Strafkammer auf das Angebot, spontan Vergleichsaufnahmen mit verschiedenen mitgebrachten Kameras zu machen, gar nicht mehr einging. Und in einem weiteren Punkt wurde die Verteidigungsstrategie durch den Ortstermin erschüttert. Die Angeklagten behaupten, dass ihre Widersacher versucht hätten, Nordulf H. zu überfahren - und dass sie ihnen lediglich hinterher gefahren seien, um deren Autokennzeichen festzustellen.

Nun sollte der junge Neonazi demonstrieren, wo er damals vor seinem Elternhaus gestanden habe. Er stellte sich mitten auf die gepflasterte Dorfstraße, wenige Meter von der Stelle entfernt, an der die Journalisten geparkt hatten. Trotzdem behauptete der 22-Jährige weiter, das Kennzeichen nicht erkannt zu haben. Adam hatte dafür nur ein Wort übrig: "Lächerlich."

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MiGAZIN, 30.11.2021:

Bespuckt, bedroht, beleidigt / Handy-Video zeigt Rassismus auf offener Straße

30.11.2021 - 05.23 Uhr

"Verpiss dich du Affe" - eine Frau bespuckt, bedroht und beleidigt einen Schwarzen Mann mit Kind auf offener Straße. Das Video dazu geht im Netz viral. Das Landeskriminalamt hat eine Tatverdächtige bereits ermittelt: eine polizeibekannt 38-Jährige.

Ein Handy-Video empört und entsetzt seit Tagen die Gemüter in den Sozialen Medien. Aufgenommen wurde es am vergangenen Freitag vor dem Gebäude der Volkshochschule in Berlin Lichtenhagen. Zu sehen ist eine Frau, die auf offener Straße Balogun Adegbayi rassistisch beleidigt, bedroht und ihn bespuckt. Adegbayi ist an diesem Nachmittag mit seinem Kind unterwegs und filmt das Verhalten der Frau.

"Mach dich in deine Heimat wo du hergekommen bist mit deinem Kind", faucht die Frau Adegbayi an und fährt fort: "Verschwinde hier du Kanake, du Affe! Du dreckiger Affe. Verpiss dich hier in deine Heimat." Mehrmals bespuckt die Frau Adegbayi dabei und droht ihm, das Handy "in die Fresse" zu schlagen.

Balogun Adegbayi stellt das Video ins Netz. "Das habe ich heute erlebt #Berlin #Lichtenberg #Germany" schreibt er dazu im Kurznachrichtendienst Twitter, markiert den Account der Berliner Polizei und fragt: "wäre ein Anzeige hier möglich oder bringt nix".

Welle der Solidarität

Binnen Stunden zieht das Video weite Kreise, wird hundertfach kommentiert und löst eine Welle der Solidarität mit dem Betroffenen aus bei Gleichzeitiger Verurteilung von Rassismus. Adegbayi wird ermuntert, Strafanzeige zu stellen. So auch die SPD-Vorsitzende Saskia Esken. "Oh Mann, ich schäme mich sehr für diese widerliche, hasserfüllte Person. Sei versichert und zeige ihr mit Deiner Anzeige, dass Du zu uns gehörst, dass sie kein Recht hat, so mit Dir zu reden dass Du die Mehrheit der Menschen in Deutschland an Deiner Seite hast", schreibt sie auf Twitter.

Fünf Stunden später reagiert die Berliner Polizei auf das Video. "Zur Zeit verbreitet sich ein Video in den Sozialen Medien, das eine Frau zeigt, die in Berlin eine Person massiv fremdenfeindlich beleidigt. Wir haben das Video kurz nach der Veröffentlichung unserem #Staatsschutz beim #LKA übermittelt", schreiben die Ordnungshüter auf Twitter und lösen wiederum eine Debatte aus.

Polizei meldet Ermittlungserfolg

Eine Twitter-Nutzerin namens "Quattromilf" schreibt, dass es falsch ist, davon auszugehen, dass "der Betroffene "fremd" ist, weil er Schwarz ist". Das sei ebenfalls rassistisch. Es sei angebracht, Rassismus als solchen zu benennen. Ein anderer Twitter-Nutzer sieht das ähnlich. "Menschen die hier aufgewachsen sind und hier Leben sind keine Fremden! Viele der Opfer haben die deutsche Staatsbürgerschaft!", schreibt er.

Am Montag teilt die Berliner Polizei mit, dass das Landeskriminalamt die Tatverdächtige ermittelt hat. Es handele sich um eine 38-Jährige, die bei der Polizei wegen ähnlicher Delikte bereits bekannt sei. "Sie hat sich nun wegen ihres Verhaltens zu verantworten", so die Polizei auf Twitter. (mig)

Bildunterschrift: Szene zeigt Rassismus auf offener Straße.

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Blick nach Rechts, 30.11.021:

Einschlägige Teilnehmer auf Demo in Rotenburg

Von Andrea Röpke

500 Anhängerinnen, Anhänger beteiligten sich in Rotenburg an einem "Spaziergang" gegen Corona-Maßnahmen. Mit dabei: ein Landtagsabgeordneter der AfD, eine Frau aus dem Parteivorstand - sowie ein ehemaliger Pastor mit Kontakten in die extreme Rechte als geladener Redner.

Seit Monaten spazieren sie in Oldenburg, Cuxhaven und Rotenburg an der Wümme. Anhängerinnen, Anhänger von Reichsbürger-Ideologie, Verschwörungstheoretiker, Esoteriker, Ökos, Impf-Gegner und weitere Gegner staatlicher Corona-Maßnahmen. Alle paar Wochen schließen sich die Organisationsteams kurz und rufen zu einem gemeinsamen größeren Marsch.

Am letzten Samstag waren es mindestens 500 Menschen ohne Masken, die sich auf dem Pferdemarkt im niedersächsichen Rotenburg trafen und anschließend durch die Wohngebiete zogen. Kleine Kinder in Flecktarn sprangen zwischen Kindergarten-Muttis in bunten Filzmänteln umher. Veteranen der Bundeswehr mit Barett und allerlei militärischen Abzeichen herzten sich zur Begrüßung. "Deutschland steht unter Kriegsrecht" verkündeten Männer und Frauen mit "SHAEF"-Schildern. Die Basis-Plaketten waren zu sehen. In Frakturschrift stand auf einem selbst gebastelten Schild: "Ich bin aus der Volksgemeinschaft ausgestoßen". Die dunkelhaarige Frau, die es sich um den Hals gehängt hatte, kommentierte antifaschistische Proteste am Neuen Markt mit dem Spruch: "Wie bekloppt die sind."

Die selbsternannten "Freiheitboten Rotenburg / Verden" möchten bürgerlich erscheinen, um weitere Akzeptanz in der Region zwischen Heide und Wesermarsch zu erringen. Doch 200 Antifaschistinnen, Antifaschisten stellten sich ihnen Samstag lautstark entgegen. Sie klärten darüber auf, wer sich hinter den vermeintlich harmlosen Spaziergängern verbirgt. Zu denen, die sich seit Monaten um Prävention bemühen, gehören die "Omas gegen Rechts". Zehn wetterfest gekleidete Damen trotzten am Samstag dem Regen, um mit ihrer Teilnahme an den Gegenprotesten auf den rechtspolitischen Hintergrund hinzuweisen.

AfD-Funktionäre vor Ort

Unauffällig bleiben wollte einer, der sich das weiße Basecap ins Gesicht gezogen hatte: Christopher Emden, Richter von Beruf und Landtagsabgeordneter der AfD in Niedersachsen. Emden ist Masken-Gegner, eine gemeinsame Klage mit Stephan Bothe gegen das Tragen in Landtagsgebäuden scheiterte. Aus dem Landesvorstand der AfD erschienen war auch Marie-Therese Kaiser. "Heute geht’s wieder auf die Straße für "Frieden, Freiheit und Selbstbestimmung" und gegen eine allgemeine #Impfpflicht", twitterte die Vorsitzende des AfD-Kreisverbandes Rotenburg (Wümme) und reihte sich ein.

Zu Beginn der Spaziergänge gab es in Rotenburg offene Bezüge zur russischen "Nationalen Befreiungsbewegung". Nach kritischen Medienberichten werden Sympathien für die rechtsextreme Pro-Putin-Struktur besser versteckt. Immer ist das so genannte Georgskreuz auf selbstgestrickten Mützen oder Mobiltelefonen von Demonstranten zu finden.

Pastor mit einschlägigen Verbindungen

Sie seien keine Rechten, betonten die Veranstalter Peter Flöter und Peter Spehling gegenüber der regionalen "Kreiszeitung" und gaben an, mittels eines "großen Spaziergangs für Frieden und Selbstbestimmung" gegen die Corona-Maßnahmen protestieren zu wollen. In den Wochen zuvor reagierte Flöter bereits ungehalten, als er mit "Querdenken" in Verbindung gebracht wurde, musste aber kleinlaut zugeben, an deren Großveranstaltung schon teilgenommen zu haben. In der Rotenburger Telegram-Gruppe "Cafe Zuversicht" um Marcus von der Wehl freute man sich darüber, dass die Rotenburger Veranstaltung unter "Demos gegen die NWO, die Welt Diktatur" aufgelistet wurde und weite Online-Verbreitung fand.

Das klarste Zeichen für den Hintergrund der Veranstaltung setzten die Rotenburger Veranstalter aber mit einem der letzten Redner des Abends: Friedrich Bode aus Visselhövede. Bode ist bei der NPD aufgetreten und Autor bei "Volk in Bewegung - Der Reichsbote", Jahrgang 2020. Vorher schrieb der Pastor im Ruhestand der Bremischen Evangelischen Kirche für "Stimme des Reiches". Diese Pamphlete gehören zur Holocaust-Leugner-Szene um Ursula Haverbeck und sind immer wieder Gegenstand von Ermittlungsverfahren der Verdener Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts auf Volksverhetzung.

Nächste Demo geplant

Früher einmal war Bode Mitbegründer der Partei Die Grünen und Brokdorf-Gegner. 2016 tauchte sein Name im Mail-Verteiler von Holocaust-Leugner Horst Mahler auf. 2018 gab er "Nordland-TV" des niedersächsischen NPD-Vorsitzenden Manfred Dammann ein umfangreiches Interview, zuvor ließ er sich von dessen Partei einladen. In Rotenburg spricht Bode im Dunkeln. Der rechte Demonstrationszug ist wieder am Pferdemarkt angelangt. Er ruft: "Eines Tages werden wir durch die Straßen ziehen, dann singen wir klassische Lieder. Dann werden unsere Herzen wach, das ist unsere Freiheit, das ist Kultur und die will man zerstören. Das kommt überhaupt nicht in Frage!" Buh-Rufe aus der aufgebrachten Menge sind zu hören. Der ehemalige Pastor bringt die Querdenker noch einmal in Stimmung. Am 06.12. soll es dann mit Corona-Leugnung und Verschwörungsmythen weitergehen.

Bildunterschrift: Teilnehmer der Demo mit SHAEF-Symbolik.

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Mitteldeutscher Rundfunk, 30.11.2021:

Erneut unerlaubte Corona-Proteste in Erfurt

30.11.2021 - 06.00 Uhr

Von MDR Thüringen

Hunderte Menschen "spazierten" am Montagabend durch Erfurt, um gegen die verschärften Corona-Maßnahmen zu protestieren. Schon am Wochenende hatte es in Thüringen an mehreren Orten unangemeldete Demonstrationen gegeben.

Mehrere Hundert Menschen haben am Montag in Thüringer Städten gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen protestiert. Rund 650 Menschen nahmen nach Angaben eines Polizeisprechers in Erfurt an einem nicht angemeldeten "Corona-Spaziergang" teil. Viele hatten Kerzen dabei. Mund-Nase-Schutz trugen sie nicht. Der Protest verlief laut Polizei "friedlich und weitestgehend störungsfrei".

Aufruf über Soziale Netzwerke

Thüringen-weit war in den Sozialen Netzwerken zum Protest gegen die Corona-Politik von Land und Bund aufgerufen worden. Außerhalb der Landeshauptstadt sei die Zahl der Teilnehmer und Teilnehmerinnen überwiegend im zweistelligen Bereich geblieben, sagte der Polizeisprecher. Die Thüringer Corona-Notfallverordnung gestattet derzeit nur ortsfeste Kundgebungen mit maximal 35 Teilnehmern.

Gereizte Stimmung am Wochenende in Eisenach

Bereits am Wochenende gingen in Thüringen hunderte unangemeldet und gemeinsam "spazieren". In Eisenach war es bei einer Ansammlung von mehreren hundert Menschen zu Auseinandersetzungen mit der Polizei gekommen, die Reizgas einsetzte. Zwei Polizisten wurden laut Polizei verletzt.

Der innenpolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion, Raymond Walk, kündigte an, man wolle die Geschehnisse vom Wochenende zum Thema im Innenausschuss machen. Es handle sich um eine "neue Qualität des Demonstrationsgeschehens und eine Herausforderung sowohl für die Gesellschaft als auch für den Staat, organisiert von Rechtsextremisten".

Bildunterschrift: "Spaziergang" in Erfurt mit hunderten Menschen.

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t-online.de, 30.11.021:

Beleidigender Post gegen Seenotretterin / Verfahren gegen AfD-Landeschef Höcke eingestellt

30.11.2021 - 19.33 Uhr

Hat der AfD-Politiker selbst eine volksverhetzende Nachricht gegen die Seenotretterin Carola Rackete im Netz veröffentlicht? Das konnten die Staatsanwälte nicht nachweisen. Doch gegen Höcke laufen weitere Verfahren.

Die Staatsanwaltschaft Mühlhausen hat ein Verfahren gegen den Thüringer AfD-Landespartei- und Fraktionschef Björn Höcke wegen des Verdachts der Volksverhetzung eingestellt. Die Ermittlungen bezogen sich auf einen Post Höckes in einem Sozialen Netzwerk, der sich gegen die Seenotretterin Carola Rackete richtete.

Zwar sei man der Auffassung, dass Strafrechtsbestände erfüllt wurden, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Mühlhausen am Dienstag. "Wir konnten aber nicht nachweisen, dass Höcke selbst das Statement verfasst und veröffentlicht hat und nicht Dritte", sagte der Sprecher. Somit werde das Verfahren aus tatsächlichen Gründen und nicht aus rechtlichen Gründen eingestellt.

Ermittlungen gegen Höckes Büro?

Im Zuge der Ermittlungen war im Mai dieses Jahres auch Höckes Wohnhaus durchsucht worden. Dabei ging es den Ermittlern ebenfalls darum, herauszufinden, wer der Urheber des Posts ist. Konkret ging es um ein Bild von Rackete, dass von Höckes Account veröffentlicht wurde, mit der Zeile: "Ich habe Folter, sexuelle Gewalt, Menschenhandel und Mord importiert". Die Staatsanwaltschaft Mühlhausen hatte Höcke verdächtigt, er könnte damit eine bestimmte Menschengruppe - Flüchtlinge - pauschal als Kriminelle stigmatisiert haben. Nach Angaben von Racketes Anwalt müssten nun Ermittlungen gegen Mitarbeiter des Kommunikationsteams der Thüringer AfD-Fraktion geführt werden. Höcke sei zu feige, sich zu den Posts zu bekennen.

Unabhängig von diesem nun eingestellten Verfahren laufen weitere Ermittlungen gegen Björn Höcke - wegen des Verdachts des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. Hintergrund ist eine Wahlkampf-Rede Höckes in Merseburg (Sachsen-Anhalt). Der Justizausschuss des Thüringer Landtages hatte für die Ermittlungen die Immunität von Höcke aufgehoben. Die Thüringer AfD wird vom Landesverfassungsschutz als extremistisches Beobachtungsobjekt geführt. Der Bundesverfassungsschutz-Chef Thomas Haldenwang hatte Höcke einen Rechtsextremisten genannt.

Bildunterschrift: Björn Höcke: Gegen den AfD-Chef von Thüringen wurde wegen Volksverhetzung ermittelt.

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Süddeutsche Zeitung Online, 30.11.2021:

Landtag / AfD-Abgeordneter Josef Seidl tritt aus der Partei aus

30.11.2021 - 13.54 Uhr

Der Grund für den Rückzug des Niederbayern sollen gesundheitliche Probleme sein. Mit dem Ausscheiden auch aus der Fraktion bekommen die internen Konflikte womöglich Auftrieb.

Von Johann Osel

Die AfD im Landtag schrumpft weiter, der niederbayerische Abgeordnete Josef Seidl ist aus der Partei ausgetreten und wird damit demnächst auch formal die Fraktion verlassen. Dies erfuhr die SZ übereinstimmend aus AfD-Kreisen. Demnach sollen gesundheitliche Gründe den Rückzug ausgelöst haben. Seidl selbst war am Dienstag nicht zu erreichen. Der 58-Jährige war gerade in jüngster Zeit, aber auch zuvor schon häufig krankheitsbedingt absent. Mit dem Ausscheiden des Heizungs- und Lüftungsbaumeisters aus dem Stimmkreis Dingolfing wird das AfD-interne Bündnis, das sich vor etwa zwei Monaten alle Posten des Fraktionsvorstands sicherte, einen Mitstreiter verlieren. Die AfD-Fraktion ist lange schon in zwei Lager gespalten.

Automatisch muss man mit dem Austritt aus der AfD auch die Fraktion verlassen. Der Vorstand will jetzt den Austritt in einer Sitzung zur Kenntnis nehmen, dann ergeht die offizielle Meldung an das Landtagsamt. Dort lag die Entscheidung am Dienstagmittag noch nicht vor, jedoch schon ein Antrag Seidls auf Änderung der Mail-Adresse. Ein Sprecher der Fraktion sagte auf Nachfrage, es handele sich um eine "persönliche Entscheidung". Der Vorstand werde diese nicht kommentieren, zumal nicht vor einer Äußerung des Abgeordneten selbst. Seidl gehört dem Bauausschuss an und arbeitet auch zur Energiepolitik, medial trat er seit 2018 kaum in Erscheinung. Er hatte bei Fraktionsgründung die damalige Chefin Katrin Ebner-Steiner unterstützt, war dann später aber zur bis vor Kurzem inneroppositionellen Gruppe gewechselt.

Es wird bereits der vierte Austritt aus der Fraktion seit Gründung sein, von den 22 AfD-Abgeordneten aus dem Jahr 2018 bleiben noch 18. Sehr früh waren Markus Plenk und Raimund Swoboda fraktionslos geworden, sie rügten politischen Richtungsstreit und "rechtsradikale" Tendenzen; Ende 2020 bei Ralph Müller waren es strategische und persönliche Differenzen, die aber mehr den Landesverband als die Fraktion betroffen haben sollen.

Die Rede ist von "null Aufregung"

Kein Richtungsstreit, keine Animositäten steckten bei Seidl dahinter, ist nun zu hören: "Es ist nix vorgefallen." Vielmehr deute der Rückzug auf eine "Notmaßnahme zum Selbstschutz" hin. Sepp Seidl neigt angeblich dazu, sich "fürchterlich aufzuregen", über den politischen Gegner, auch mal über die eigenen Leute. Auch soll er, zur Vermeidung von Aufregung, längst interne Chats verlassen haben. Die Rede ist von "null Aufregung", die sich ärztlich empfehle. Konflikte hatte Seidl zuletzt eher im niederbayerischen Bezirksverband auszutragen, der in der AfD manchen als "Hexenkessel" gilt. Warum Seidl sein Mandat nicht aufgibt, blieb unklar. Bei den früheren Austritten hatten dies viele gefordert, da die Ausscheider nur über das AfD-Ticket im Landtag säßen. Bei Seidl könnte es relevant sein, dass der Nachrücker auf der Liste dem Lager des völkischen "Flügels" zugerechnet wird.

In der Fraktion verfügt die Führung um die neuen Vorsitzenden Christian Klingen und Ulrich Singer dann über zehn Leute, das Gegenlager um die abgewählten Ebner-Steiner und Ingo Hahn über acht. Die Blöcke stehen trotz des Machtwechsels, nach außen hin wurden aber zuletzt keine Konflikte ausgetragen. Die Abgewählten stimmen manchmal mit der Mehrheit, manchmal testen sie die Geschlossenheit der anderen aus. Für einen Umsturz wäre eine Zwei-Drittel-Mehrheit nötig. In alltäglichen Abstimmungen könnte sich Seidls Abschied aber bemerkbar machen. Wenn im Mehrheitslager jemand krankheitsbedingt oder womöglich aus Unmut über die Corona-Regeln im Landtag fehlt, wäre man schnell beim Patt. Denkbar ist durchaus, dass dieser Spielraum genutzt wird.

Bildunterschrift: Josef Seidl, Heizungs- und Lüftungsbaumeister aus dem Stimmkreis Dingolfing, verlässt aus persönlichen Gründen die AfD, wie es heißt.

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