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Mindener Tageblatt , 26.03.2018 :

Zeitzeugin in Prag verstorben

Nachruf: Dagmar Lieblová stellte Buch über ihre Zeit in Theresienstadt in Petershagen vor

Eine der letzten Zeitzeuginnen des Holocausts, Dagmar Lieblová, ist tot. Die tschechische Jüdin erlag am Donnerstag in Prag im Alter von 88 Jahren nach einer Operation vor wenigen Wochen den Folgen einer schweren Erkrankung, wie ihre Verlegerin Martina Bergmann bekannt gab.

Der heimischen Region war die promovierte Germanistin, Lehrerin und Übersetzerin durch die deutsche Übersetzung ihrer Erinnerungen "Jemand hat sich verschrieben - und so habe ich überlebt" verbunden, die der Arbeitskreis Alte Synagoge Petershagen gemeinsam mit der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Minden im Bergmann-Verlag in Borgholzhausen herausgegeben hat. Bei der Vorstellung der Ausgabe in Deutschland war die Autorin vor zwei Jahren nach Petershagen gekommen und hatte im Alten Amtsgericht aus dem Buch gelesen.

1929 als Kind jüdischer Eltern in Kutná Hora (Kuttenberg) geboren, wurde Dagmar Lieblová 1942 mit ihrer Familie nach Theresienstadt deportiert und kam von dort 1943 nach Auschwitz-Birkenau, wo ihre Eltern und ihre Schwester ermordet wurden. Sie selbst musste in Außenlagern des KZ Neuengamme Zwangsarbeit leisten und erlebte das Kriegsende und ihre Befreiung schwer krank im KZ Bergen-Belsen.

Nach ihrer Genesung konnte Dagmar Lieblová ihre Schulausbildung nachholen und Philologie und Germanistik studieren. Sie promovierte schließlich und arbeitete als Lehrerin und als Übersetzerin, so auch an der Karlsuniversität in Prag, in der Sowjetunion und in Ghana.

Auf Grund von vielen Bitten nach Zeitzeugen-Gesprächen entschied sie sich, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben, was große Beachtung fand. Zuletzt hatte die Süddeutsche Zeitung ihr Ende Januar einen großen Bericht gewidmet.

Dagmar Lieblová hinterlässt drei Kinder und sechs Enkelkinder. Sie wird am Montag auf dem neuen jüdischen Friedhof in Prag beigesetzt.

Bildunterschrift: Eine der letzten Zeitzeugen: Dagmar Lieblová (1929 - 2018).


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Mindener Tageblatt, 23./24.01.2016:

"Jemand hat sich verschrieben"

MT-Interview: Dagmar Lieblová kam als Kind nach Auschwitz, Neuengamme und Bergen-Belsen. Jetzt liest die 86-jährige Zeitzeugin in Petershagen aus ihrer auf Deutsch erscheinenden Biografie.

Minden / Petershagen (lkp). Dagmar Lieblová wurde als 13-Jährige mit ihrer Familie in das KZ Theresienstadt deportiert. Später kam sie auch nach Auschwitz-Birkenau. In Kürze erscheint ihre Geschichte "Jemand hat sich verschrieben - und so habe ich überlebt". In der kommenden Woche liest sie daraus am Mittwoch, 27. Januar, um 19 Uhr im Städtischen Gymnasium Petershagen und führt Zeitzeugen-Gespräche mit Schülern in Petershagen und Minden. Mit 86-Jährigen sprach MT-Redakteur Jürgen Langenkämper.

Frau Lieblová, Sie wurden als älteste von zwei Töchtern jüdischer Eltern in Kutná Hora, eine Autostunde östlich von Prag, geboren. Spielte Religion, jüdische Kultur eine große Rolle in ihrer Erziehung?

Die Religion und jüdische Kultur spielten in unserer Erziehung keine große Rolle. Ich habe natürlich gewusst, dass wir eine jüdische Familie sind, mein Großvater hat mich ab und zu in die Synagoge mitgenommen, der andere Großvater hat uns beim Abschied immer gesegnet. Wir wurden jedoch als Tschechinnen, beziehungsweise damals als Tschechoslowakinnen erzogen.

Wann wurden Sie sich der Gefahr bewusst, in der Sie als junge Jüdin im Mitteleuropa der damaligen Zeit schwebten?

Als am 15. März 1939 der Rest der Tschechoslowakei von Nazi-Deutschland besetzt wurde, habe ich aus dem Verhalten meines Vaters begriffen, dass etwas sehr Schlimmes passiert sein musste. Denn er hat mir weinend mitgeteilt, dass wir keine Republik mehr haben.

Wann haben Sie das erste Mal von Theresienstadt und dem KZ dort gehört?

Genau weiß ich es nicht mehr, aber es musste kurz nach dem Anfang der Deportationen im Herbst 1941 sein.

Im Vergleich zu den großen Vernichtungslagern in Polen hört sich Theresienstadt immer etwas verniedlichend an. Wie war es wirklich?

Theresienstadt war natürlich überhaupt kein Paradies. Besonders für diejenigen, die nicht nach dem Osten deportiert wurden, und die ganze Zeit dort verbringen konnten, war es das Schlimmste in ihrem Leben. Aber verglichen mit den großen Vernichtungslagern, aber auch mit kleineren Lagern, wohin wir dann geschickt wurden, war das Leben in Theresienstadt erträglich. Trotz der schlimmen hygienischen Verhältnisse, den Flöhen, Wanzen, Hunger, schweren Krankheiten. Aber dort hatten wir noch unsere Sachen, die Familien wurden zwar getrennt untergebracht, man konnte sich jedoch jeden Tag sehen, und wir (die Häftlinge aus dem Protektorat) waren in gewisser Hinsicht noch zu Hause, also in Böhmen. Für die deutschen, österreichischen, dänischen und niederländischen Juden war dies natürlich anders.

Hatten Sie eine Ahnung, was Sie erwartete, als Sie nach Auschwitz verlegt wurden?

Nein.

Wie haben Sie Auschwitz-Birkenau überlebt?

Wegen beziehungsweise dank eines Fehlers in meinem Geburtsjahr - jemand hat sich verschrieben, das ist auch der Titel meiner Biografie - geriet ich unter die arbeitsfähigen Frauen und wurde zur Sklavenarbeit nach Deutschland geschickt.

Sie wurden auch nach Deutschland deportiert. Wo waren Sie überall?

Ich war in Hamburg, in drei Außenlagern des KZ Neuengamme: Dessauer Ufer, Neugraben und Tiefstack und zum Schluss im KZ Bergen-Belsen.

Wie haben Sie Ihre Befreiung erlebt?

Schwer krank in Bergen-Belsen.

Wie lange dauerte es, bis Sie ein halbwegs normales Leben führen und an Beruf und Familie denken konnten? Bis Sie wieder lachen konnten?

Ein paar Jahre hat es wohl gedauert. Lachen konnte ich vielleicht etwas früher, obwohl es eine Zeit im Lager gab, wo ich dachte, dass ich nie im Leben wieder lachen werde.

Hat ein Mensch, der Ihnen vor dem Grauen nahe stand, die Shoa überlebt?

Nein.

Nach allem, was Ihnen Deutsche angetan haben, ist es erstaunlich, dass die deutsche Sprache, vielleicht auch Teile der deutschen Kultur Ihr Leben geprägt haben. Wie kam es dazu?

Nach dem Abitur wollte ich an der Uni Sprachen studieren, aber sich 1951 um Englisch zu bewerben, schien mir mit meiner jüdischen Herkunft ohne Chance zu sein. So habe ich zum Tschechisch Deutsch gewählt. Mit dem, was uns passiert ist, habe ich die Sprache nie verbunden.

Wann war es Ihnen möglich, in Deutschen etwas anderes zu sehen als Mörder, deren Helfershelfer und deren Nachkommen?

Ich habe, so weit ich mich erinnern kann, nie alle Deutschen für Mörder gehalten. Geschweige denn dann die Nachkommen.

Ihre Lebensgeschichte erscheint jetzt auch auf Deutsch. Was hat Sie dazu bewegt?

Ich führe seit vielen, vielen Jahren die so genannten Zeitzeugen-Gespräche auch mit Deutschen, Erwachsenen wie Jugendlichen, werde auch ziemlich oft nach Deutschland zu solchen Gesprächen oder zu anderen Anlässen eingeladen. Und da entsteht sehr oft die Frage, ob meine Lebensgeschichte aufgeschrieben wurde. Nachdem also das Buch auf Tschechisch erschienen war, hat mein Mann damals gleich mit der Übersetzung angefangen. Ohne zu wissen, ob es mal auch erscheint. Und ich bin den beiden Organisationen, sowohl der AG Alte Synagoge Petershagen, als auch der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Minden sehr dankbar, dass das Buch nun wirklich herausgegeben werden kann.

Bildunterschrift: Gedenken an die Opfer: In Theresienstadt und in den Vernichtungslagern, in die von dort aus jüdische Männer, Frauen und Kinder aus ganz Mitteleuropa deportiert wurden, starben mehr als 120.000 Opfer. Weniger als 17.000 lebten bei Kriegsende noch und litten weiter unter den Folgen.

Bildunterschrift: Als Kind in Theresienstadt: Dagmar Lieblová.

Theresienstadt

Mehr als 140.000 Männer, Frauen und Kinder wurden während des Zweiten Weltkriegs in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Die meisten der Internierten kamen aus Böhmen und Mähren, 73.468 Bewohner, 42.821 aus Deutschland, 15.266 aus Österreich, 4.894 aus den Niederlanden, 1.447 aus der Slowakei, 1.150 aus Ungarn und 476 aus Dänemark sowie 1.260 Kinder aus Bialystok.

In Theresienstadt starben 33.456 Menschen. Direkt in dem KZ starben 6.152 tschechische Häftlinge - ungefähr jeder Zwölfte. Die Todesrate der deutschen Juden lag wegen der anderen Altersstruktur fast sechsfach höher - bei 48,6 Prozent. 20.848 Deutsche kamen um, darunter ehemalige Bürger aus Minden und Petershagen.

88.202 Internierte wurden weiter in Vernichtungslager deportiert. Von den 60.382 tschechischen Juden kamen 57.285 um, und von den 16.098 deutschen Juden überlebten weniger als 100. 764 Internierte konnten fliehen, und 1.654 wurden schließlich befreit. 276 Personen waren verhaftet und vermutlich umgebracht worden.

Bei Kriegsende am 9. Mai 1945 hatten 16.832 Bewohner überlebt. Davon waren 10.031 tschechische und 5.973 deutsche Juden. Die Todesraten nach dem "Vorzeigelager" Theresienstadt und weiterer Deportation lagen bei beiden Gruppen bei rund 86 Prozent.


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