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Lippe aktuell , 17.02.2018 :

Vortrag

Das "Detmolder Gedenkbuch für die Opfer der NS-Gewaltherrschaft" liegt nun in überarbeiteter, erweiterter und vor allem digitaler Form vor. In einem Vortrag geht die Historikerin Gudrun Mitschke-Buchholz dem Spannungsfeld zwischen neuer Quellenlage, einer Vielzahl von digitalen Möglichkeiten, dem hochbürokratisierten und verwaltungstechnischen Agieren des NS-Staates auf der einen Seite und dem Lebens- und Leidensweg auf der anderen Seite nach, die hier in Detmold ihr Zuhause, ihre Familien, ihre Nachbarn und Freunde hatten. Der Vortrag im Rahmen der diesjährigen Veranstaltungsreihe rund um den Holocaust-Gedenktag findet am Dienstag, 20. Februar, um 19.30 Uhr im Haus Münsterberg, Hornsche Straße 38. statt. Veranstalter ist die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Lippe e.V.

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- Dienstag, 20. Februar 2018 um 19.30 Uhr -


Vortrag von Gudrun Mitschke-Buchholz: 173 Leben - Zur neuen Online-Fassung des Detmolder Gedenkbuchs für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft


- www.gedenkbuch-detmold.de


Veranstaltungsort:

Haus Münsterberg
Hornsche Straße 38
32756 Detmold


Das Gedenkbuch ist nun einer weitaus breiteren Öffentlichkeit als bisher verfügbar. Alle Kurzbiographien der Druckfassung aus dem Jahre 2001 wurden nicht nur überarbeitet und durch neu zugängliche Dokumente erheblich erweitert. Es konnten zwölf neu erforschte Lebenswege von Ermordeten aus Detmold hier nun dokumentiert werden.

In diesem Vortrag soll dem Spannungsfeld zwischen neuer Quellenlage, einer Vielzahl von digitalen Möglichkeiten, dem hochbürokratisierten und verwaltungstechnischen Agieren des NS-Staates auf der einen Seite und dem Lebens- und Leidensweg von Menschen auf der anderen Seite nachgegangen werden, die hier in Detmold ihr Zuhause, ihre Familien, ihre Nachbarn und Freundinnen und Freunde hatten.

Denn es gilt, sich bei aller Dokumentation und Wissenschaftlichkeit immer wieder vor Augen zu führen, worüber wir hier handeln: Es geht um 173 Menschen, deren Leben gewaltsam zerstört wurde.


Veranstaltung der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Lippe e.V.

www.gfcjz-lippe.de

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Lippische Landes-Zeitung, 26.01.2018:

Ein monströser Apparat der Auslöschung

Interview: Die Historikerin Gudrun Mitschke-Buchholz hat zu den Schicksalen von Detmoldern geforscht, die durch Nazis ermordet wurden / Sie enthüllt im neuen digitalen Gedenkbuch der Stadt das perfide Tötungssystem

Detmold. Die Historikerin Gudrun Mitschke-Buchholz hat das Gedenkbuch für die Detmolder NS-Opfer überarbeitet. Neue Quellen haben das Wissen über das Leiden Detmolder Mitbürger vergrößert und neue Erkenntnisse gebracht. Welche, erklärt die Forscherin im Interview.

Das Gedenkbuch für die NS-Opfer in Detmold gibt es jetzt digital. Sie haben daran insgesamt vier Jahre gearbeitet, die Digitalisierung wird also nicht alles gewesen sein?

Gudrun Mitschke-Buchholz: Nein, ich habe alle bisher bekannten 162 Kurzbiografien überarbeitet, zum Teil vertieft, korrigiert und um neue Dokumente ergänzt

Das Bild vom Geschehen ist also besser, differenzierter geworden?

Mitschke-Buchholz: Ja, heute kann man viel deutlicher nachvollziehen, wie der NS-Staat agiert hat. Die Quellenlage hat sich in den 16 Jahren seit Erscheinen des Gedenkbuches vollkommen verändert. Fast alle Dokumente liegen mittlerweile digitalisiert vor, sie sind viel schneller und besser zu ermitteln. Ich habe für die Überarbeitung fast 80 Archive und Gedenkstätten genutzt, die wichtigste Institution war der Internationale Suchdienst ITS in Bad Arolsen. Er sammelt alle Daten von Menschen, die in Konzentrationslagern inhaftiert waren. Erst seit 2007 sind die Bestände auch für die Wissenschaft zugänglich. Ich hatte das Glück, dort sehr schnell tätig werden dürfen und bin auf unglaublich kooperative Mitarbeiter gestoßen. So habe ich heute 1.000 Seiten Material zur Verfügung. Außerdem sind zwölf weitere neue Lebensläufe hinzugekommen, sodass das Gedenkbuch für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Detmold jetzt 173 Personen umfasst.

Wie ist das noch möglich nach so vielen Jahren?

Mitschke-Buchholz: An der Forschung waren auch der ehemalige Detmolder Stadtarchivar Dr. Andreas Ruppert und Lars Lüking vom Landesarchiv beteiligt, mit denen ich mich austauschen konnte. Es lassen sich immer noch neue Dinge finden, so ein Buch unterliegt einem steten Prozess der Veränderung, auch die Gedenktafeln an der alten Synagoge müssen entsprechend erneuert werden.

Lässt sich umreißen, welche Erkenntnisse Sie gewonnen haben?

Mitschke-Buchholz: Die Dokumente zeigen, wie die auch verwaltungstechnisch perfektionierte Mordmaschine des NS-Staates funktioniert hat. Außerdem kann man sich durch neue Fotos ein Bild davon machen, welche Menschen es waren, die zu ihren Opfern wurden. Man kann aus den nun öffentlich zugänglichen Dokumenten ablesen, wie mit diesen Menschen verfahren wurde. Beispielsweise gibt es so genannte Effektenkarten aus den Konzentrationslagern, auf denen alles aufgelistet wurde, was die Menschen dabei hatten, jedes Unterhemd, jedes Besitzstück. Es gibt Briefe, die natürlich unter scharfer Zensur geschrieben wurden. Es gibt Todeslisten, "Stärkemeldungen", Nummernkarten, Karteikarten, auf denen die angebliche Todesursache vermerkt wurde, Listen, wann wer im Krankenbau war und warum, und vieles mehr, was einen nur fassungslos zurücklassen kann.

Die NS-Bürokratie hat alles erfasst?

Mitschke-Buchholz: Ja. Man kann ein perfektioniertes System, ein riesiges staatliches Regelwerk erkennen, das den Anschein der Legitimität erweckt. Ein so bürokratisiertes System konnte offenbar den Menschen das Gefühl geben: Ich muss ihm folgen; ich befolge die Vorschriften pflichtgemäß, was ich tue, ist richtig, das System verlangt es so. Da wurde ein monströser Apparat aufgebaut, der das Ziel hatte, Menschen und deren Spuren gänzlich auszulöschen. Es ist das Ziel eines solchen Gedenkbuches, diese Spuren sichtbar und zu einem Teil der öffentlichen Erinnerung zu machen.

Heißt das, dass man auch heute aufpassen muss, dass einem in dem Wust an Material die Menschen nicht verloren gehen?

Mitschke-Buchholz: Ja, es gilt, sich das immer wieder bewusst zu machen, dass man es mit Menschen und mit Schicksalen zu tun hat. Wie beispielsweise die Familie Brandt. Der Vater war Geschäftsführer der jüdischen Möbelfabrik Neugarten & Eichmann. Sein Sohn ist als kleines Kind in Detmold bereits 1931 gestorben. Die Tochter Inge war Diabetikerin. Was bedeutete es, die medizinische Versorgung nicht mehr bezahlen zu können, die Arbeit und das Zuhause zu verlieren und unter dem Terror zu leben? Vater und Tochter sind in Bergen-Belsen umgekommen. Die Mutter sollte von dort noch nach Theresienstadt deportiert werden und starb tragischerweise auf ihrem Weg in die Befreiung an Tuberkulose. Sie wurde in einem Dorf verscharrt, das sie nie gekannt hat.

Geht es im Detmolder Gedenkbuch ausschließlich um jüdische NS-Opfer?

Mitschke-Buchholz: Nein, alle, die vom NS-System verfolgt wurden und das so genannte "Dritte Reich" nicht überlebt haben, sind aufgenommen. Denn es ist mir wichtig, keiner "Opfer-Hierarchie" zu folgen. Aufgenommen wurden also auch politisch Verfolgte, Menschen, die als asozial galten, psychisch Kranke und auch Opfer der NS-Justiz. So sind zum Beispiel Menschen wegen relativ geringfügiger Gesetzesverstöße durch Sondergerichte als "gefährliche Gewohnheitsverbrecher" verurteilt worden und qualvoll in Konzentrationslagern umgekommen. Diese Urteile der Sondergerichte sind heute als Unrechtsurteile anerkannt. Der NS-Strafvollzug stand außerhalb der Rechtsordnung. Insofern sind auch die als "Verbrecher" Inhaftierten und Ermordeten hier als Opfer zu nennen.

Wie lässt sich das Wissen an die nächste Generation weitergeben?

Mitschke-Buchholz: Auch wenn es sich oftmals wie der Kampf gegen die berühmten Windmühlen anfühlt, bleiben meines Erachtens als einzige Mittel Aufklärung und Dokumentation, nun eben auch mittels eines anderen Mediums. Es geht darum, diese menschlichen Katastrophen vor dem Vergessen zu bewahren. 2016 wurde auf einer Berliner Konferenz, die sich mit genau dieser Thematik befasste, in diesem Sinne der Leitsatz "Erinnerung ist ein Menschenrecht" formuliert.

Das Interview führte LZ-Redakteur Thorsten Engelhardt.

Gedenkbuch im Internet

Das Digitale Gedenkbuch für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Detmold ist von Gudrun Mitschke-Buchholz im Auftrag der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Lippe erarbeitet worden. Es ist im Netz unter www.gedenkbuch-detmold.de zu sehen. Rüdiger Schleysing hat die Internetseite umgesetzt. Sie bietet - soweit bekannt - verschiedene Informationen über die durch die Nazis umgekommenen Detmolder Bürgerinnen und Bürger: Namen, Geburts- und Todesdaten, Religionszugehörigkeit, Angehörige, Beruf, Darstellung des Schicksals (sofern möglich), Fotos, Quellen- und Literaturhinweise. Gudrun Mitschke-Buchholz hat ein detailliertes und einordnendes Vorwort dazu verfasst. Am Dienstag, 20. Februar, wird sie in einem Vortrag ab 19.30 Uhr im Haus Münsterberg, Hornsche Straße 38, über die Online-Fassung des Gedenkbuches berichten.

Persönlich

Gudrun Mitschke-Buchholz ist freie Historikerin. Seit 25 Jahren widmet sie sich beruflich der Erforschung der NS-Zeit und des Holocaust - insbesondere mit Blick auf die Geschichte in Detmold. Bekannt wurde sie durch das Detmolder Gedenkbuch, aber auch durch das Buch über die Familie Herzberg ("Lebenslängliche Reise") oder durch ihre regelmäßig angebotenen Rundgänge zur jüdischen Geschichte.

Bildunterschrift: Ludwig Frenkel: Mit zehn Jahren in Auschwitz ermordet.

Bildunterschrift: Hans Mill: Mit 41 Jahren in Dachau ermordet.

Bildunterschrift: Max Alexander: 1942 mit 44 Jahren nach Warschau deportiert.

Bildunterschrift: Bernhard Löwenstein: Mit 49 Jahren in Dachau ermordet.

Bildunterschrift: Heinrich Christian Heuer: Mit 38 Jahren in Hadamar ermordet.

Bildunterschrift: Irmgard Heiss: Im Lindenhaus an mangelnder Versorgung umgekommen.

Bildunterschrift: Elsa Buchholz: Todesort unbekannt.

Bildunterschrift: Walther Heymann: Todesort unbekannt.

Fotos: www.gedenkbuch-detmold.de


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