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Westfalen-Blatt , 14.04.2020 :

NS-Mördern auf der Spur

75 Jahre nach dem Krieg ist Oberstaatsanwalt Andreas Brendel der einzige Ermittler

Dortmund / Detmold (dpa/WB). Auch 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs geht eine Schwerpunkt-Staatsanwaltschaft in Dortmund weiter möglichen Nazi-Kriegsverbrechen nach. "Es ist deutlich weniger geworden, aber es laufen derzeit zwei größere Ermittlungsverfahren bei uns, und ein Prozess ist noch vor dem Landgericht Wuppertal anhängig", sagte jetzt Oberstaatsanwalt Andreas Brendel. Auch in Detmold gab es vor vier Jahren einen derartigen Fall - den Auschwitz-Prozess gegen den ehemaligen SS-Wachmann Reinhold Hanning, der damals 94 Jahre alt war.

Brendel leitet die NRW-Zentralstelle für die "Bearbeitung Nationalsozialistischer Massenverbrechen" innerhalb der Dortmunder Staatsanwaltschaft. "Wir haben zudem mehrere Verfahren, in denen es im Wesentlichen darum geht, uns angezeigte Verdachtsfälle zu überprüfen." Hinweise kommen mitunter von der bundesweiten NS-Fahndungsstelle in Ludwigsburg. Auch Einzelpersonen wie Historiker oder Angehörige melden sich zu Themen wie Juden-Verfolgung in Bielefeld oder Erschießungen in Wuppertal im Dritten Reich und bitten um Untersuchung, ob noch Täter aufzuspüren oder Anhaltspunkte für Ermittlungen zu finden sind.

"Wir überprüfen viel. Ich halte das für wichtig. Auch wenn es immer schwieriger wird, tatsächlich Täter zu finden", sagte Brendel. Nach so langer Zeit sei eine Tatbeteiligung extrem schwer nachzuweisen. Das galt auch für den Fall Hanning, der in Detmold verhandelt wurde und deutschlandweit auf großes Interesse stieß.

Hanning war ein deutscher SS-Unterscharführer und wurde als solcher zur Leitung von Wachmannschaften in den Konzentrationslagern Auschwitz und Sachsenhausen eingesetzt. "Der Angeklagte hat am Vernichtungszweck des Lagers mitgewirkt", sagte Brendel damals in seinem Plädoyer. In Auschwitz habe es Massenerschießungen, Hungertod und die massenhafte Vergasung von Häftlingen gegeben. "Wir sind es den Opfern schuldig, die Verbrechen auch heute noch zu verfolgen", hatte Brendel betont. Die Staatsanwaltschaft hatte eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren gefordert. Das Urteil: Hanning wurde 2016 wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 170.000 Fällen zu fünf Jahren Haft verurteilt. Allerdings wurde das Urteil nicht rechtskräftig, da das Verfahren bei Hannings Tod noch anhängig war. Hanning, 1921 in Helpup geboren, starb am 30. Mai 2017 in Lage.

Ein weiterer früherer Wachmann im KZ Stutthof ist vor dem Landgericht in Wuppertal angeklagt, sagte Brendel. Die zwei anderen noch aktuellen größeren Fälle haben Bezug zu NS-Massenverbrechen im besetzten Frankreich - und liegen nach Worten des Oberstaatsanwalts derzeit beim Landeskriminalamt zur Bearbeitung. Seit der Einrichtung der Dortmunder Zentralstelle im Oktober 1961 sind 1.482 Fälle bearbeitet worden. Brendel ist der einzige Ermittler und einer der wenigen überhaupt in Deutschland, die noch NS-Mörder "jagen".

Bildunterschrift: Staatsanwalt Andreas Brendel, hier 2016 im Verhandlungssaal in Detmold, wo es um den Fall Hanning ging.

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Lippische Landes-Zeitung, 15.07.2019:

"Der Kämpfer gegen das Schweigen"

Bundesverdienstkreuz: Der Jurist Thomas Walther wird in Wangen im Allgäu ausgezeichnet / Erst durch sein Engagement hat die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen seit 2006 Fahrt aufgenommen / Im Detmolder Auschwitz-Prozess vertrat er 2016 etliche Nebenkläger

Von Silke Buhrmester

Wangen / Detmold. Großer Bahnhof zu Ehren eines außerordentlichen Juristen: In seiner Heimat Wangen im Allgäu haben am Wochenende rund 140 Freunde und Vertreter des öffentlichen Lebens der Verleihung des Verdienstordens am Bande an den ehemaligen Richter und heutigen Rechtsanwalt Thomas Walther beigewohnt. Der 76-Jährige hatte sich auch in Detmold einen Namen als Vertreter von knapp 30 Nebenklägern im Auschwitz-Verfahren gegen den ehemaligen SS-Wachmann Reinhold Hanning gemacht.

Den Orden überreichte Michael Lang, Oberbürgermeister der Kreisstadt im Allgäu mit knapp 30.000 Einwohnern, in der Walther seit vielen Jahren lebt und als alleinerziehender Vater vier Kinder groß zog. Lang bezeichnete den Geehrten als "Kämpfer gegen das Schweigen" und "energischen Rechercheur", der durch seine Arbeit Verbrechen der NS-Zeit mehr als 60 Jahre später zur Anklage brachte.

Er habe doch nur seinen Job gemacht, gab sich Walther vor einigen Wochen noch bescheiden in einer Mail an seinen juristischen Mitstreiter Prof. Cornelius Nestler, mit dem er gemeinsam die Nebenkläger in Detmold vertrat. Dass sein Engagement jedoch deutlich das eines "normalen Anwalts" überstieg, machte Nestler in seiner mehr als 30-minütigen Laudatio deutlich.

Dabei rief er in Erinnerung, wie Thomas Walther nach seiner Zeit als Amtsrichter in Bayern noch einmal eine Herausforderung gesucht habe: "Er wollte am Ende seiner Laufbahn noch mal etwas Wichtiges machen." So kam er 2006 als Ermittler zur Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen nach Ludwigsburg.

Thomas Walther erweckte die in Lethargie gefallene Behörde zu neuem Leben. Hier herrschte die Meinung, dass NS-Verbrecher ohne einen "Verdacht auf eine unmittelbare Beteiligung an einer Mordhandlung" nicht mehr angeklagt werden konnten. Walther entwickelte die Theorie von der "Tötungsfabrik als Tat" und schrieb damit Justizgeschichte. Er erreichte, dass John Demjanjuk, als SS-Wachmann mit ukrainischen Wurzeln im Vernichtungslager Sobibor eingesetzt, 2008 vom Landgericht München wegen Beihilfe zum Mord verurteilt wurde, obwohl ihm persönlich keine konkrete Tat nachgewiesen werden konnte - ein richtungsweisendes Urteil und juristischer Türöffner für die Verfahren gegen den "Buchhalter von Auschwitz", Oskar Gröning, der 2015 vom Landgericht Lüneburg verurteilt wurde, und den SS-Wachmann Reinhold Hanning, der 2016 am Landgericht Detmold schuldig gesprochen wurde.

Den Opfern mit Geduld und Empathie zuhören

Soweit die Täterseite. Doch Walthers Engagement galt vor allem den Opfern. Als er 2009 in Ludwigsburg in den Ruhestand verabschiedet wurde, eröffnete er in Kempten im Allgäu eine eigene Kanzlei. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die letzten lebenden NS-Verbrecher vor Gericht zu bringen und suchte auf der ganzen Welt nach Überlebenden, die von den Gräueltaten der Nazis berichten konnten. Zunächst vor allem in den USA und Israel, später aber auch in Kanada, Ungarn und vielen anderen Ländern habe er "als guter Rechercheur mit Intuition und Kreativität" Menschen gefunden, deren Vertrauen er "mit Zeit, Geduld und Empathie" gewonnen habe und die ihm ihre Geschichte erzählten. Er hörte den Überlebenden zu - viele von ihnen sagten in NS-Prozessen aus, auch in Detmold. So habe er den Opfern ein Gesicht gegeben: "Dass die vor einem deutschen Gericht ihre Geschichte berichten durften, war ihnen eine große Genugtuung", so Nestler, der den Geehrten als "Botschafter für Deutschland" bezeichnete.

Eva Fahidi, ungarische Zeitzeugin der Shoa, war eine der ersten, die Walther in Budapest aufsuchte, damit sie als Nebenklägerin im Gröning-Prozess aussagte: "Er ist der einzige aus 80 Millionen Deutschen, der erkannt hat, dass hinter jeder Häftlingsnummer von Auschwitz ein Mensch, eine Geschichte, ein Schicksal steckt", fasste die 93-jährige Auschwitz-Überlebende in einer bewegenden Rede zusammen.

Walther selbst mahnte, sich weiter zu erinnern: "Die Geschichtsvergessenheit vom rechten Rand befeuert Antisemitismus. Und Verbalattacken sind der Nährboden für geballte Fäuste und körperliche Angriffe."

Gratulanten

Glückwünsche aus der ganzen Welt erreichten Wangen anlässlich der Bundesverdienstkreuz-Verleihung an Rechtsanwalt Thomas Walther. "Ich bewundere und liebe ihn. Er hat Deutschland und wie ich über Deutschland denke, verändert", schrieb Hedy Bohm, Nebenklägerin im Detmolder Auschwitz-Prozess, aus Toronto. Auch Kanadas Präsident Justin Trudeau sendete Glückwünsche. Christoph Heubner, Exekutiv- Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees: "Thomas Walther verkörpert für die Auschwitz-Überlebenden die Glaubwürdigkeit der deutschen Justiz, auf die sie Jahrzehnte gewartet haben." (sb)

Bildunterschrift: Den Moment festgehalten: Wangens Oberbürgermeister Michael Lang (rechts) überreicht Thomas Walther die Urkunde und den Verdienstorden am Bande. Im katholischen Gemeindezentrum schießt Walthers Ehefrau Judith ein Handy-Foto.

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WDR-Nachrichten aus Ostwestfalen-Lippe, 12.02.2016:

Auschwitz-Prozess in Detmold: Überlebende sagen aus

12.02.2016 - 10.44 Uhr

Von Oliver Jürgens

In Detmold läuft der Prozess gegen den ehemaligen Auschwitz-Wachmann Reinhold Hanning (94). Dem Mann aus Lage im Kreis Lippe wird Beihilfe zum Mord in 170.000 Fällen vorgeworfen. Heute sagen Überlebende des Vernichtungslagers als Zeugen aus.

Der Angeklagte soll von 1943 bis 1944 im Auschwitz-Stammlager am Massenmord beteiligt gewesen sein. Ihm droht eine Haftstrafe von mindestens drei Jahren. Oberstaatsanwalt Andreas Brendel schilderte am Donnerstag (11.02.2016) in seiner Anklageschrift das Grauen von Ausschwitz. "Die Entscheidung über Leben und Tod lag in den Händen der Männer an der Rampe." Sie hätten willkürlich entschieden, sagte der Dortmunder Staatsanwalt. Und er sprach von einer "fabrikmäßigen Tötung". "Dem Angeklagten war bekannt, dass er dafür gebraucht wurde. Er wollte die Tötung ermöglichen oder erleichtern."

Eine besondere Anklage

Zum ersten Mal hat eine Staatsanwaltschaft in Deutschland den arbeitsteilig begangenen Massenmord in Auschwitz in seinem ganzen Umfang angeklagt. Bislang wurden Wachmänner allein wegen der Ermordung der Menschen vor Gericht gestellt, die unmittelbar nach ihrer Ankunft auf der Rampe für den Tod in den Gaskammern selektiert wurden. Die Staatsanwaltschaft Dortmund jedoch hat nun auch die Ermordung der Häftlinge durch die Lebensverhältnisse angeklagt. Schwere Arbeit, ungenügende Kleidung und schlechte Ernährung hätten die Menschen getötet.

Angeklagter schweigt

Reinhold Hanning nahm die Anklage regungslos auf, den Blick auf den Boden gesenkt. Zur Anklage selbst äußerte er sich nicht. Seine Verteidiger sprachen für ihn und schilderten seinen Werdegang. Von der Volksschule sei Reinhold Hanning nach der Militärzeit in englische Kriegsgefangenschaft gekommen. Danach habe er als Koch und dann in einem Molkereigeschäft als Verkäufer und Ausfahrer gearbeitet. Später habe er den Betrieb dann übernommen. Die Zeit als SS-Mann ließ die Verteidigung offenbar bewusst aus. "Wir wollen uns zum jetzigen Zeitpunkt nicht zur Sache äußern", sagte Verteidiger Johannes Salmen. Bei der Durchsuchung seines Hauses vor eineinhalb Jahren soll der Angeklagte jedoch zugegeben haben, Wachmann in Auschwitz gewesen zu sein. Von den Tötungen dort will er nichts gewusst haben.

Auschwitz-Überlebender sagt aus

Als erster Zeuge wurde der 94-jährige Berliner Leon Schwarzbaum gehört. Er schilderte, wie er ins Konzentrationslager deportiert wurde. Die Nazis hätten 35 Menschen aus seiner Familie ermordet. Je älter er würde, desto häufiger müsse er an die Erlebnisse in Auschwitz denken, sagt er. Die Nazis hätten sein Leben zerstört. Leon Schwarzbaum sprach den Angeklagten danach direkt an: "Ich fordere Sie auf, die historische Wahrheit zu erzählen." Zum ersten Mal sah der Angeklagte dabei auf. Doch sein Schweigen brach er nicht. Neben Leon Schwarzbaum waren noch drei weitere Auschwitz-Überlebende im Gerichtssaal. Heute (12.02.2016) geht die Befragung der Überlebenden des Vernichtungslagers weiter. Auf Grund des Gesundheitszustands des Angeklagten ist jeder Prozesstag auf zwei Stunden begrenzt.

66 Jahre unbehelligt in Lage gelebt

Laut Anklageschrift soll Reinhold Hanning 1935 der Hitler-Jugend beigetreten sein, habe sich 1940 freiwillig zur Waffen-SS gemeldet und auf dem Balkan und in Russland gekämpft. 1942 war er Mitglied des SS-Totenkopfsturmbanns Auschwitz, heißt es weiter. Seit 66 Jahren lebt er im lippischen Lage ein gutbürgerliches Leben, zuletzt als Witwer bei seinem Schwiegersohn.

Weitere Prozesse geplant

In diesem Jahr soll gegen weitere KZ-Helfer prozessiert werden. Am 29. Februar steht in Mecklenburg-Vorpommern ein 95-Jähriger vor Gericht, der im KZ Auschwitz-Birkenau in der SS-Sanitätsdienststaffel tätig gewesen sein soll. Er wird wegen Beihilfe zum Mord in 3.861 Fällen angeklagt. Im April soll sich in Hessen ein 93-jähriger früherer SS-Wachmann verantworten müssen. Ihm wird Beihilfe zum Mord in 1.075 Fällen vorgeworfen. Im Fall einer 91-jährigen Frau aus Schleswig-Holstein steht noch nicht fest, ob ihr der Prozess gemacht wird. Sie soll als Funkerin der Kommandantur von April bis Juli 1944 bei der systematischen Ermordung von 260.000 verschleppten Juden geholfen haben.

Bisher nur gut 40 von 6.500 SS-Wachleuten angeklagt

Rund 6.500 SS-Wachleute aus Auschwitz haben den Krieg überlebt. Nach Angaben des Internationalen Auschwitz Komitees wurden nur gut 40 von ihnen angeklagt. 32 SS-Wachleute wurden zu Freiheitsstrafen verurteilt, acht davon zu lebenslänglich.

Bildunterschrift: Der 94 Jahre alte Angeklagte Reinhold Hanning.

Bildunterschrift: Oberstaatsanwalt Andreas Brendel.

Bildunterschrift: Oliver Köhler berichtet aus Detmold über den Auschwitz-Prozess.

Bildunterschrift: Auschwitz-Überlebende Leon Schwarzbaum.

Bildunterschrift: Die ersten Zuschauern haben sich drei Stunden vor Prozessbeginn angestellt.

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Am 24. Mai 2018 stellte der Bundesgerichtshof, in der Strafsache gegen Reinhold Hanning, fest, dass der "... Schuldspruch wegen Beihilfe zum Mord" ... "revisionsrechtlicher Überprüfung standgehalten ... " hätte.

Am 30. Mai 2017 ist der einstige "SS-Unterscharführer" Reinhold Hanning (Lage) - am 17. Juni 2016 vom Landgericht Detmold wegen "Beihilfe zum Mord" in Auschwitz verurteilt, im Alter von 95 Jahren verstorben.

Am 17. Juni 2016 wurde der ehemalige SS-Unterscharführer Reinhold Hanning vom Landgericht Detmold wegen Beihilfe zum Mord in Auschwitz in mindestens 170.000 Fällen zu 5 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.

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www.nebenklage-auschwitz.de

www.justiz.nrw.de/nrwe/lgs/detmold/lg_detmold/j2016/4_Ks_45_Js_3_13_9_15_Urteil_20160617.html

www.youtube.com/watch?v=vCdMJb3OzhM


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