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Westfalen-Blatt / Bad Oeynhausener Zeitung , 30.03.2020 :

Bei der Mittagsstulle fallen die Bomben

Vor 75 Jahren ist das Eisenwerk Weserhütte bombardiert worden

Von Louis Ruthe

Bad Oeynhausen (WB). Karfreitag, 30. März 1945: ein Tag, der für etwa 200 Arbeiter des damaligen Eisenwerkes Weserhütte in Bad Oeynhausen mit dem Tod endete. Tausende Arbeiter konnten noch rechtzeitig fliehen, bevor die Alliierten sechs Bombenangriffe flogen, um das für die Rüstungsindustrie der Deutschen Wehrmacht umfunktionierte Werk zu zerstören. Gerhardt Horstmann und Wilhelm Riesmeier, beide damals 14 Jahre alt, können sich noch genau an die Ereignisse des Tages erinnern.

"Mit 13 sind wir eingezogen worden und jeden Morgen hatten wir Angst", berichtet Gerhardt Horstmann. Am 1. April 1944 fing er als Werkzeugmacher in der Weserhütte an, Punkt 7.30 Uhr. "In Reih und Glied mussten wir unsere Finger und Schuhe vorzeigen. Wenn was nicht stimmte, haben wir einen auf die Schnauze bekommen", sagt Gerhardt Horstmann. Das erste halbe Jahr habe er nur am Schraubstock gestanden und Passstücke gefeilt. "Dass ich Passstücke für die Pak oder die Flak gefeilt habe, ist mir erst Jahre später bewusst geworden", berichtet er. Für Wilhelm Riesmeier ist der 1. Juni 1944 der erste Arbeitstag gewesen. "Wir haben damals etwa 60 Pfennig die Stunde bekommen", berichtet der damals in Volmerdingsen wohnende Zeitzeuge. Heute lebt er in Lübbecke. Von 7.30 Uhr bis 17 Uhr sei in der Weserhütte geschuftet worden. "Eine Mittagspause stand uns immer zu", sagt Wilhelm Riesmeier. Er sei oftmals mit dem Rad zur Arbeit gefahren. Gerhardt Horstmann nutzte den Bus, um aus Rothenuffeln zur Arbeit zu fahren.

"Ich packte meine Mittagsstulle ein, riss mein Henkelmann vom Tisch und rannte zur Treppe."
Zeitzeuge Gerhardt Horstmann

Tag der Bombardierung

"Es war erstmalig, dass wir auch an Karfreitag arbeiten mussten", erinnert sich Wilhelm Riesmeier. Es sei eine sonnige Woche gewesen. Also stieg Wilhelm Riesmeier wieder auf sein Rad und fuhr zur Weserhütte runter. Auch Gerhardt Horstmann überlegte sich, an dem Tag das Rad anstatt den Bus zu nehmen. "Ich musste ein bisschen eher los, habe es aber pünktlich zum Antreten geschafft", sagt er. Nach einem "ganz normalen Morgen" hatten die zu dem Zeitpunkt 14-Jährigen auf die Minute genau um 12.30 Uhr ihre Mittagspause begonnen, mit einigen hundert anderen Arbeitern. "Der Aufenthaltsraum war auf einer Empore und über eine Treppe zu erreichen", sagt Wilhelm Riesmeier.

Immer mal wieder sei es zu der Zeit zum Bombenalarm gekommen. So auch um kurz vor 13 Uhr am 30. März 1945. "Plötzlich ertönte über die Werkssirenen ein Vollalarm", berichtet Gerhardt Horstmann und ergänzt: "Ich packte meine Mittagsstulle ein, riss meinen Henkelmann vom Tisch und rannte zur Treppe." Doch kaum an der Treppe angekommen schlugen die ersten Bomben in den Westhallen des Werkes ein. "Alles hat gewackelt. Einige schmissen sich hin und uns erfasste eine riesige Druckwelle voller Schutt und Asche", berichtet Gerhardt Horstmann. Wilhelm Riesmeier ergänzt: "Plötzlich war alles hell und wir rannten so schnell wir konnten."

Die Flucht

Durch ein großes Tor im Ostflügel des Werkes verließen die beiden Zeitzeugen damals das Werk. Gerhardt Horstmann lief zum Spänebunker an der Weser, wo sein Fahrrad stand. "20 bis 30 Personen haben da versucht Schutz zu finden", sagt Gerhardt Horstmann. Wilhelm Riesmeier rannte bis nach Volmerdingsen, ohne einen Blick zurück zu wagen. "Ich habe mich am Wiehengebirge orientiert", sagt Wilhelm Riesmeier. Sein Fahrrad habe er nie wiedergefunden. "Als ich Zuhause ankam, habe ich erst mal von meiner Mutter einen hinter die Löffel bekommen, weil meine Klotten voller Staub waren", berichtet Gerhardt Horstmann. "Ich habe dann irgendwie aus mir heraus gestottert, dass die Weserhütte bombardiert wurde und Muttern nahm mich in den Arm", sagt er. Noch am selben Abend sei er auf einen Aussichtspunkt im Wiehengebirge geklettert. "Es stand alles in Flammen", erinnert sich Gerhardt Horstmann.

Als die Alliierten kamen

Wenige Tage später hätten die ersten Panzer der Alliierten es über den Berg geschafft. "Die ersten Tage sind wir alle im Haus geblieben", erinnert sich Gerhardt Horstmann. Erst Ende Mai habe er sich wieder aus dem Haus getraut.

"Wir beide hatten ganz großes Glück. Wenn die Bomben nur 50 Meter weiter östlich eingeschlagen wären, wären wir auch tot gewesen", sagt Wilhelm Riesmeier. 150 Arbeiter seien bei den insgesamt sechs Angriffen ums Leben gekommen, dutzende weitere erlagen später ihren Verletzungen. Mehr als 3.500 Arbeiter seien in dem Werk beschäftigt gewesen. "Viele kamen mit mir über den Berg", sagt Gerhardt Horstmann.

Bildunterschrift: Heute erinnert eine Tafel am 1998 eröffneten Einkaufszentrum Werre-Park an das Eisenwerk Weserhütte, das ehemals dort stand. Wilhelm Riesmeier (89, links) und Gerhardt Horstmann sind Zeitzeugen des Bombenangriffs auf die Weserhütte am 30. März 1945. Das Foto entstand vor der Zuspitzung der Corona-Krise.

Bildunterschrift: Mit solch einem Arbeitsausweis mussten die jungen Arbeiter morgens um 7.30 Uhr antreten.

Bildunterschrift: Eine Luftansicht aus dem Kriegsjahr 1939: Tausende Arbeiter haben im Eisenwerk Weserhütte für die Kriegsmaschinerie gearbeitet.

Bildunterschrift: Die Industrieanlage nach dem Bombenangriff am 30. März 1945: Ein einzelner Panzer liegt vor den völlig zerstörten Werkshallen.

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Neue Westfälische - Bad Oeynhausener Kurier, 23.03.2020:

Bomben treffen die Weserbrücke

Die Alliierten zerstörten vor 75 Jahren kurz vor Kriegsende noch die Weserbrücke in Rehme / Zeitzeugin Hannelore Glahn (85) war im Wald Holz sammeln, als die Bomber kamen

Nicole Sielermann

Bad Oeynhausen. Eigentlich hatte die Kurstadt Glück. Als Kurort und Heilbad musste sie in den Jahren des Zweiten Weltkrieges kaum mit Luftangriffen rechnen. Zumal auch zahlreiche Verwundete Bad Oeynhausen damals zu einer Lazarett-Stadt machten. Und doch fielen Bomben. Nur wenige Tage vor der Übernahme der Stadt durch die Alliierten und dem Ende des Krieges wurden die Weserbrücke in Rehme (23. März 1945) und die Weserhütte (30. März 1945) bombardiert und teilweise zerstört. Die Bad Oeynhausenerin Hannelore Glahn war damals mit dem Nachbarsjungen Holz sammeln im Wald - und sah, wie sich die Klappen an den Bombern öffneten. Sie ist eine von nur noch wenigen Bad Oeynhausenern, die über die letzten Kriegstage erzählen können. In den kommenden Wochen werden in der NW Zeitzeugen erzählen.

Gerhard Lietz hat die Daten für die Chronik der Stadt zusammengestellt. Vier Mal wurde Bad Oeynhausen zwischen November 1944 und März 1945 bombardiert. Dann kamen die wohl schwersten Angriffe. Am 23. März 1945 wurden die Rehmer Autobahnbrücke und die Eisenbahnbrücke Vlotho getroffen. Angreifer waren britische Lancaster-Flugzeuge, die Zehn-Tonnen-Bomben abwarfen. Arbeitsgruppen sollten eine Ersatzbrücke bauen, aber weil die Amerikaner näher kamen, musste das Vorhaben aufgegeben werden.

Als Zehnjährige zum Holzsammeln

Hannelore Glahn war damals zehn Jahre alt und mit dem Bollerwagen Holz sammeln, als Bomben die Weserbrücke in Rehme zerstörten. "Wir haben gesehen, wie die Bomben fielen", erinnert sich die 85-Jährige. Die vielen Bombenkrater seien noch Jahre später bis zum Automuseum zu sehen gewesen. "Mein Vater, der in Russland ein Bein verloren hatte und im Lazarett auf dem Wittekindshof war, kam sehr oft nach Hause zu uns in die Rehmer Siedlung", erzählt die 85-Jährige. Sie erinnert sich auch, dass ihr Vater mit ihren beiden Brüdern zusammen im Garten einen tiefen Bunker ausgehoben hatte: "Es gab ja laufend Fliegeralarm."

Alles sei damals rationiert gewesen: Lebensmittel, Kohlen, Holz. Es habe Bezugsscheine gegeben, mit denen man zum Beispiel im Wiehengebirge Holz sammeln durfte. So am 23. März 1945. "Meine Mutter und unsere Nachbarin hatten sich zum Holzsammeln verabredet. Morgens in aller Herrgottsfrühe ging es mit einem Bollerwagen von Rehme, durch Dehme und ins Wiehengebirge." Mit dabei auch Hannelore und der Nachbarsjunge. "Auf meine drei jüngeren Geschwister und die fünf anderen Kinder der Nachbarin passte in der Zeit meine Tante auf", erinnert sich Hannelore Glahn. Im Berg wurden die Bollerwagen mit Ästen beladen: "Das war nicht einfach. Erst mussten zu beiden Seiten dickere Äste gesteckt, dazwischen Äste längs gelegt und mit Stricken gesichert werden."

Eigentlich waren die Vier nahezu fertig - als es Bombenalarm gab. "Wir haben vom Berg aus gesehen, wie die feindlichen Flugzeuge ihre Klappen öffneten, die Bomben über Rehme abwarfen und die Weserbrücke bombardierten." Die beiden Mütter seien sofort losgelaufen, den Berg hinunter, heim nach Rehme. "Ich habe nie wieder jemanden so schnell laufen sehen." Der Nachbarsjunge und die zehnjährige Hannelore mussten beim Bollerwagen bleiben. "Wir mussten aufs Holz aufpassen - damit dass keiner klaut." Für Hannelore Glahn sind die Bilder im Kopf "als ob es gestern war". Erst am späten Nachmittag seien die beiden Mütter zurückgekehrt. Mit einer guten Nachricht. "Unsere Häuser wurden nicht getroffen." Lediglich die Tante sei einem Nervenzusammenbruch nahe gewesen. Sie hatte während des Angriffs mit der ganzen Kinderschar im Bunker gesessen. "Sie hat nie wieder auf die Kinder aufgepasst", sagt Glahn mit einem kleinen Schmunzeln. Unter Mühen haben die vier Holzsammler damals die Bollerwagen durch Hohl- und Waldwege geschoben und gerissen. "Wir konnten von Glück sagen, dass dabei nicht noch eine Achse oder Deichsel brach."

Einen Tag später hatte sich der Vater vom Wittekindshof aus von einem Bauern nach Rehme mitnehmen lassen. Mit seinen Krücken sei er zur Weserbrücke gehüpft, um sich die Zerstörung anzusehen. "Wir bekamen Verbot, dorthin zu gehen. Zum einen wegen der vielen toten jungen Flakhelfer, zum anderen wegen der nicht explodierten Bomben, den Blindgängern."

Nur eine Woche später erfolgte der Luftangriff auf das Eisenhüttenwerk Weserhütte. Dort wurde am 30. März 1945 - trotz des Karfreitags - gearbeitet. In der Mittagszeit kam der Fliegeralarm. Doch der Angriff kam so plötzlich, dass viele Arbeiter noch am Arbeitsplatz tödlich getroffen wurden. Verwaltungsgebäude und angrenzende Hallen brannten ab, andere wurden durch Sprengbomben weitgehend zerstört. Nur die am Nordrand des Geländes gelegenen Hallen kamen glimpflich davon. In Tagebuchblättern schilderte der Lehrer Heinrich Deppe damals, dass ein Flieger von der Flak auf der Lohe getroffen worden sei. Der Rest habe Bomben entlang der Weserstraße abgeworfen. Denn auch dort hatten die Bomber ein Ziel: die Panzer-Abstellplätze in der Oeynhauser Schweiz. Häuser seien getroffen worden, Panzer hätten Verwundete aus der Weserhütte zum Krankenhaus am Südbahnhof gebracht. Deppe weiter: "In der Schweiz starben die Hirsche durch den Luftdruck. Viele Tote wurden geborgen. Leute, die im Wald Schutz gesucht hatten. ( ... ) Hätte eine Bombe den auf dem Bahnhofsgelände stehenden Munitionszug getroffen, es wäre nicht auszudenken, was dann aus Oeynhausen geworden wäre. Also Glück im Unglück."

981 Voll-Alarme in der Kurstadt

In Bad Oeynhausen gab es zwischen 1939 und 1945 insgesamt 870 Vor-Alarme und 981 Voll-Alarme. Nur wenige Tage später, am 3. April 1945 ("Osterdienstag"), übergab der Allgemeinmediziner Werner Aly die Stadt kampflos an die Amerikaner. Der Oberstabsarzt Aly war Chefarzt des Teillazaretts der Johanniter-Ordenshäuser. Er selber schrieb damals auf: "Der Chef des Gesamtlazaretts rief mich an und sagte, Aly fahren Sie sofort los und übergeben Sie die Stadt." Mit einem Betttuch und Hauptmann Krüger als Sozius düste Aly mit seinem kleinen NSU-Motorrad nach Gohfeld zum Witteler Krug. Weil ihm der amerikanische Offizier nicht recht Glauben schenkte, schlug Werner Aly ihm vor, die beiden Deutschen auf einen Panzer zu setzen. Und so fuhr Aly auf dem Kühler eines Panzerspähwagens nach Oeynhausen herein. "Später bedankten sich die Offiziere in sehr höflicher Form bei mir für die Hilfe." Beide sprachen Deutsch - beide waren als Studenten in Heidelberg gewesen.

Um 15.15 Uhr kapitulierte Bad Oeynhausen. Als die Truppen in die Kurstadt einmarschierten, waren die Straßen menschenleer. Für die Unterbringung der Soldaten mussten ganze Häuserreihen, wie an der Herforder Straße geräumt werden. Obwohl im Nachhinein viele Bad Oeynhausener nichts Schlechtes über die Amerikaner sagen können, ist laut der Stadtchronik mehrfach bezeugt worden, dass betrunkene Soldaten Frauen vergewaltigt haben. Die Zahl der Fälle ist aber nie ermittelt worden. Man sprach, so Lietz, von mehr als 40.

Bildunterschrift: Bericht über die Rehmer Weserbrücke nach der Bombardierung im Zweiten Weltkrieg.

Bildunterschrift: Hannelore Glahn erlebte als Zehnjährige, wie die Rehmer Weserbrücke bombardiert wurde.

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Am 30. März 1945 flogen Bomber-Verbände der US-Luftwaffe über Bad Oeynhausen (sechs) Luftangriffe - um das (für die Rüstungsindustrie der Wehrmacht umfunktionierte) "Eisenwerk Weserhütte" zu zerstören.

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www.badoeynhausen.de/kultur-sport-freizeit/kultur/stadtarchiv


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