Lippische Landes-Zeitung ,
26.03.2020 :
St. Marien will die "Judensau" nicht verstecken
In etwa 25 Kirchen in Deutschland sind die antisemitischen Steinbilder noch zu finden / Die Abbildung in Lemgo gilt als eine der ältesten in Deutschland / Über den Umgang mit den Figuren gibt es international Diskussionen und Gerichtsverfahren
Katrin Kantelberg
Lemgo. Es ist ein Schmuck, den heute niemand mehr gerne sieht. Das Sandsteinrelief im Eingangsbereich der Kirche St. Marien stammt noch aus der Bauzeit Anfang des 14. Jahrhunderts. Eine Figur in zwei Metern Höhe, die aus der Säule herausgearbeitet ist - die "Judensau".
"Judensau", das ist ein fest stehender Begriff, der die Tiermetapher beschreibt, mit der - ausgehend vom späten Mittelalter - das Judentum verhöhnt wurde. In und an knapp 30 Gebäuden in Deutschland sind diese Verunglimpfungen noch zu finden, vor allem an christlichen Kirchen - in Nordrhein-Westfalen etwa am Kölner Dom und in der Kirche St. Marien in Lemgo.
Dort gleitet der Blick des Besuchers schnell über die eher unauffällige knapp einen Meter große Figur hinweg. Zu sehen ist ein Junge in kniender Haltung, der ein Schwein an sich drückt. Er trägt den typisch konischen Hut und ist damit als Jude zu erkennen. Während der Jude in enger Umarmung mit dem Schwein verbleibt, ist als Pendant an einer Säule wenige Meter weiter Jesus auf dem Thron dargestellt. "Der Jude wird damit auf eine Stufe mit dem Tier gesetzt", erklärt Pastor Matthias Altevogt die damalige Intention, das Judentum zu verhöhnen als zu dumm, Jesus als Sohn Gottes zu erkennen. Eine Beleidigung, zumal das Schwein im Judentum als unreines Tier gilt, das laut Moses weder gegessen, noch im toten Zustand angefasst werden darf.
Antijudaismus war im Mittelalter durchaus geläufig. Spottbilder und Reliefs sind seit dem frühen 13. Jahrhundert belegt. Als Hochwasser, Pest und Handelskrise weite Teile des Landes in Armut stürzten, war einmal mehr das Judentum als Sündenbock gefragt. Vor allem an Kirchen sind die diffamierenden Abbildungen heute noch zu finden. Oft als liegende Sau, an deren Zitzen die Juden saugen, wie etwa in Wittenberg, am Brandenburger oder auch am Magdeburger Dom. Auf anderen Darstellungen sitzt ein Jude verkehrt herum auf dem Schwein und wird vom spritzenden Urin befleckt - und dann ist da noch die Abbildung von St. Marien, die bei manchen Betrachtern auch einen Hinweis auf Sodomie erweckt, wie Stadtführerin Liesel Kochsiek-Jakobfeuerborn erklärt. Der israelische Historiker Isaiah Shachar geht in seinem Buch "The Judensau" davon aus, dass die Lemgoer Figur eine der ältesten erhaltenen Abbildungen dieser Art ist.
Wittenberger Klage vor dem Bundesgericht
Es ist vor allem die Wittenberger "Judensau", die das Thema in jüngster Zeit an die Öffentlichkeit gebracht hat. Seit 2016 - im Vorfeld des Reformationsjubiläums - gibt es dort Theologen, Verbände und Bürger, die fordern, das Relief zu entfernen. Bis heute laufen Gerichtsverfahren, erst im Februar hat das Landgericht Dessau mit Verweis auf den historischen Kontext eine Klage abgewiesen, die mittlerweile den Bundesgerichtshof beschäftigt. Und so bleibt der Umgang mit der "Judensau" bis heute umstritten: Sehen die Kritiker in den Steinbildern die Diffamierung des Judentums, so haben die Denkmalpfleger eher das Zeitzeugnis im Blick.
In St. Marien hat die Gemeinde eine klare Stellung zu der Abbildung gefunden. Seit 1995 gibt es Informationstafeln, die über die Hintergründe aufklären und sich auch deutlich von der damaligen Intention distanzieren. Damit will sich die Gemeinde der Vergangenheit stellen, erklären und zum Diskurs einladen. Denn nur so könnte das Vergangene aufgearbeitet werden. Das betrifft in der Kirche auch zwei Reliefs, die den Lebensweg Jesu nachzeichnen. Sie sind an der Säule unterhalb der Kanzel zu finden und zeigen unter anderem wie Jesus am Kreuz von zwei Juden gegeißelt wird. Und das, obgleich zu damaliger Zeit römische Soldaten Todesurteile und Kreuzigungen vollstreckten.
Liesel Kochsiek-Jakobfeuerborn gehört zu den Stadtführern, die vor gut drei Jahrzehnten bei Rundgängen auf die Figuren aufmerksam machten, über die Ursprünge aufklärten und damit letztlich auch die Info-Tafeln initiierten. Bis heute stießen die Sandstein-Reliefs bei Führungen immer wieder auf Erstaunen, kaum jemandem seien die Darstellungen zuvor aufgefallen. Um so wichtiger ist es der Gemeinde, die Figuren nicht zu verstecken, sondern Licht in die dunkle Vergangenheit zu bringen. Dafür überlegt Pastor Altevogt derzeit, den Infotafeln noch mehr Raum zu geben.
Bildunterschrift: Pastor Matthias Altevogt und Liesel Kochsiek-Jakobfeuerborn betrachten das judenfeindliche Relief an der Kanzel. Jesus am Kreuz wird von zwei Männern gegeißelt, die aufgrund ihres konischen Hutes als Juden zu erkennen sind.
Bildunterschrift: Die "Judensau" in Lemgo - die Figur wird in enger Umarmung mit einem Schwein gezeigt. Auch diese Figur trägt die für damalige Verhältnisse typische jüdische Kopfbedeckung.
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Westfalen-Blatt, 11.02.2020:
"Wir verstecken die Schande nicht"
St. Marien in Lemgo ist eine von 22 deutschen Kirchen mit einer "Judensau"
Von Christian Althoff
Lemgo (WB). In der vergangenen Woche hat das Oberlandesgericht Naumburg entschieden, dass das im 13. Jahrhundert entstandene "Judensau"-Relief an der Stadtkirche von Wittenberg nicht entfernt werden muss - weil es heute mit einer Erklärtafel ein Mahnmal sei und keinen beleidigenden Charakter mehr habe.
"Dieses Urteil hat uns wieder daran erinnert, dass wir eine der wenigen Kirchen in Deutschland sind, die ebenfalls ein solches antisemitisches Relief haben", sagt Matthias Altevogt, Pfarrer der Evangelisch-lutherischen St.-Marien-Kirche in Lemgo. Bundesweit sind 22 "Judensau"-Darstellungen an oder in Kirchen bekannt, außerdem vier an Profanbauten. St. Marien (1320 geweiht) und der Kölner Dom sind die einzigen Kirchen in Nordrhein-Westfalen, bei denen die Existenz solcher Darstellungen bekannt ist.
Mittelalterliche "Judensau"-Bilder, -Reliefs und -Skulpturen stellen einen Menschen im intimen Kontakt mit einem Schwein dar - mit einem Tier, das nach den jüdischen Speisegesetzen als nicht koscher gilt. Prof. Dr. Hans-Walter Stork, Mittelalter-Kunsthistoriker, Theologe und Direktor der Erzbischöflichen Akademischen Bibliothek in Paderborn: "Wir finden diese Reliefs in mehreren europäischen Ländern. Die dargestellten Menschen sind klar als Juden zu erkennen: Entweder durch den konisch zulaufenden Hut, der der damaligen jüdischen Tracht entsprach, oder durch einen gelben Flecken auf der Brust." Juden hätten seit dem 13. Jahrhundert in mehreren Ländern Europas eine gelbe Markierung tragen müssen. "Das haben sich nicht erst die Nazis ausgedacht", sagt der Kunsthistoriker. Dass sich heute "Judensau"-Darstellungen fast nur noch in Kirchen fänden, liege daran, dass Kirchen sehr auf das Bewahren ausgerichtet seien.
Die Ausgrenzung und Verächtlichmachung der Juden, auch durch die "Judensau"-Darstellungen, habe ihren Ursprung in der Vorstellung, Juden hätten den Messias, der einer von ihnen gewesen sei, nicht als solchen erkannt und ihn ans Kreuz geschlagen, sagt der Kunsthistoriker und Theologe. So findet sich in der Lemgoer Kirche St. Marien, die um 1526 lutherisch wurde, nicht nur ein "Judensau"-Relief, sondern an der Säule, die die Kanzel trägt, eine weitere antisemitische Darstellung. Pfarrer Matthias Altevogt: "Sie zeigt Jesus vor der Kreuzigung. Er ist an Händen und Füßen gefesselt und wird von zwei Juden ausgepeitscht. Dabei lag zu Lebzeiten Jesu die Gerichtsbarkeit alleine bei der römischen Besatzungsmacht. Juden waren für Bestrafungen überhaupt nicht zuständig."
Doch dieses Juden-Bild habe sich bis ins 20. Jahrhundert gehalten. "Noch bis 1950 wurde die so genannte Enterbungstheorie vertreten", sagt der Pfarrer von St. Marien. "Sie besagte, dass Gott die Juden als auserwähltes Volk für immer verworfen habe, weil sie Jesus getötet hätten, und die Kirche Christi damals an ihre Stelle getreten sei." Auch solche Vorstellungen hätten den Holocaust mit möglich gemacht.
Das Lemgoer "Judensau"-Relief befindet sich im Eingangsbereich der Kirche vor einer Halbsäule in etwa 1,90 Meter Höhe und ist damit deutlich sichtbarer als Darstellungen in manchen anderen Kirchen. Der 1977 gestorbene israelische Historiker Isaiah Shachar schreibt in seinem 1974 erschienenen Werk "The Judensau", das Lemgoer Relief gehöre zu den sechs ältesten noch vorhandenen. Es sei in seiner Darstellung einzigartig, denn bei den meisten Darstellungen würden Juden von einer Sau gesäugt. Die 93 Zentimeter hohe Sandsteinfigur in Lemgo zeige dagegen einen hockenden Juden, der ein Schwein umarme. Shachar bezeichnet die Darstellung als obszön. Liesel Kochsiek-Jakobfeuerborn, die seit Jahrzehnten Stadtführungen zum Thema "Jüdisches Leben" in Lemgo anbietet, wird deutlicher: "Die Skulptur zeigt Sodomie." Lange sei die "Judensau"-Darstellung in St. Marien kein Thema in Lemgo gewesen, aber in ihren Stadtführungen sei sie immer vorgekommen. "1995 hat sich die Kirche dann entschlossen, Erklärtafeln anzubringen."
Zur Diskussion in Wittenberg um eine Entfernung des Reliefs sagt Pfarrer Altevogt, in Bezug auf St. Marien halte er ein Entfernen für falsch. "Wir wollen die Schande nicht verstecken." Im Gegenteil: Er wolle mit dem Gemeindevorstand besprechen, ob man die beiden Reliefs und ihre Geschichte nicht noch deutlicher herausstelle.
Von den ehemals etwa 100 Lemgoer Juden haben drei den Holocaust überlebt.
Bildunterschrift: In St. Marien in Lemgo zeigt das "Judensau"-Relief einen Juden in enger Umarmung mit einem Schwein. Stadtführerin Liesel Kochsiek-Jakobfeuerborn, die Führungen zum Thema "Jüdisches Leben in Lemgo" anbietet, spricht von einer Sodomie-Darstellung. Ihre nächste Führung findet am 15. Februar um 14 Uhr statt, Treffpunkt ist am Turm von St. Marien.
Bildunterschrift: Der Lemgoer Pfarrer Matthias Altevogt mit dem 700 Jahre alten Relief, das die Auspeitschung Jesu durch zwei Juden zeigt.
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Am 25. März schrieb Katrin Kantelberg ("Lippische Landes-Zeitung") über das "Judensau"-Relief - eine 93 Zentimeter hohe Sandsteinfigur im Eingangsbereich der Evangelisch-lutherische St.-Marien-Kirche, Lemgo.
Am 11. Februar 2020 berichtete Christian Althoff ("Westfalen-Blatt") über das "Judensau"-Relief - eine 93 Zentimeter hohe Sandsteinfigur im Eingangsbereich der Evangelisch-lutherische St.-Marien-Kirche, Lemgo.
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www.jüdische-gemeinden.de/index.php/gemeinden/k-l/1181-lemgo-nordrhein-westfalen
www.gfcjz-lippe.de
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