www.hiergeblieben.de

7 Artikel , 09.04.2019 :

Pressespiegel überregional

_______________________________________________


Übersicht:


Telepolis, 09.04.2019:
NSU: "Warum kann der Staat einen Polizistenmord nicht aufklären?"

Berliner Morgenpost Online, 09.04.2019:
Mordfall Bektaş: Initiative fordert Untersuchung

Blick nach Rechts, 09.04.2019:
Haft für braunen Hetzredner?

Blick nach Rechts, 09.04.2019:
Deutschnationale Vereinsmeierei

Der Tagesspiegel Online, 09.04.2019:
Streit in Pankow eskaliert "Antifaneutralisierer": AfD-Fraktions-Chef posiert mit Maschinengewehr

Hessenschau.de, 09.04.2019:
AfD stoppt Lokalpolitiker nach Rechtsextremismus-Vorwürfen

Neue Westfälische, 09.04.2019:
Strafbefehl gegen AfD-Ratsherrn

_______________________________________________


Telepolis, 09.04.2019:

NSU: "Warum kann der Staat einen Polizistenmord nicht aufklären?"

Von Thomas Moser

Fortgesetzte Zweifel an der offiziellen Theorie, Untersuchungsausschuss in Thüringen stößt auf Manipulationen in den Kiesewetter-Akten, auch Veteranenverein "Uniter" Thema im Landtag

Die Zweifel verstummen nicht, ob tatsächlich feststeht, wer 2007 in Heilbronn die Polizistin Michèle Kiesewetter erschossen und ihren Kollegen Martin A. lebensgefährlich verletzt hat. Für die Bundesanwaltschaft und den Staatsschutzsenat in München waren es ausschließlich die beiden toten NSU-Mitglieder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. Vieles spricht gegen diese Theorie.

Die Zweifel kommen auch aus dem Munde von Polizeibeamten, wie in der jüngsten Sitzung des NSU-Untersuchungsausschusses von Thüringen. Kiesewetter tat zwar Dienst bei der Polizei in Baden-Württemberg, stammte aber aus Thüringen. In Saalfeld-Rudolstadt, einem der Zentren des so rechtsextremen wie mit staatlichen Spitzeln durchsetzten Thüringer Heimatschutzes (THS), ist auch Kiesewetters Onkel Mike W. bei der Polizei tätig. In der Vergangenheit war er in der Abteilung Staatsschutz, die mit dieser rechten Szene zu tun hatte.

Für ihn sei der Mord an seiner Nichte bis heute nicht aufgeklärt, berichtete ein Staatsschutzkollege gegenüber den Abgeordneten. Mike W. bewege vor allem eine Frage: "Warum kann der Staat einen Polizistenmord nicht aufklären?" Und die Antwort, die sich der Onkel des Opfers zurechtgelegt habe, ist gleichfalls eine Frage: "Wird der Mord vielleicht nicht aufgeklärt, weil der Staat beteiligt war?"

In diesem Gedanken, so ketzerisch er klingt, verdichten sich tatsächlich viele Widersprüche und Ungereimtheiten, die die Bundesanwaltschaft programmatisch ignoriert und damit selber in den Fokus gerät: Warum hält die oberste Strafverfolgungsinstanz derart mutwillig an der Behauptung fest, die Täter seien ausschließlich Böhnhardt und Mundlos gewesen? Was soll nicht aufgeklärt werden?

Die Ermittler der "SoKo Parkplatz" waren, vor November 2011, zu dem Schluss gekommen, an der Tat müssten mindestens vier bis sechs Täter beteiligt gewesen sein. Das ist bis heute nicht widerlegt. Auch der gesamte NSU-Untersuchungsausschuss No. 2 des Bundestages formulierte, quasi hoheitlich, seine grundlegenden Zweifel an der amtlichen Zwei-Täter-Theorie.

Staatliche Verstrickung?

Ausgerechnet in der jüngsten Ausschusssitzung Anfang April ergab sich ein Puzzlestück, das in dieses Szenario passt. Die Abgeordneten stießen auf eine offensichtliche Manipulation in den Heilbronner Ermittlungsakten zum Mordfall Kiesewetter. Ihr vorgesetzter Truppführer namens Ringo L., der sich heute M. nennt, war zwei Mal von den Ermittlern vernommen worden - unmittelbar nach dem Mord 2007 in Heilbronn und ein zweites Mal im Juni 2011 beim Landeskriminalamt (LKA) in Stuttgart. In den Akten findet sich aber nur die Vernehmung von 2011. Die von 2007 fehlt.

Den Abgeordneten und einigen Journalisten war das erst im Laufe der Befragung des Zeugen aufgefallen. Er hatte zunächst von seiner Vernehmung gesprochen, die "in Heilbronn" stattgefunden habe. Auf einen Aktenvorhalt, sprich: Konfrontation mit seiner Vernehmung im Jahre 2011, erinnerte er sich an diese zweite Vernehmung in den Räumen des LKA in Stuttgart.

Wo ist die erste Vernehmung mit Ringo L., und wer hat sie aus welchem Grund aus den Ermittlungsunterlagen entfernt? Es ist nicht die erste und einzige Manipulation dieses Aktenwerkes. Bei mindestens drei weiteren Polizeibeamten, die nach dem Anschlag befragt wurden, ergab sich ein Problem mit umgekehrtem Vorzeichen: Es lagen Protokolle vor von Vernehmungen, die, so die Beamten, gar nicht stattgefunden haben sollen. In den Ordnern wiederum, die nach dem Aufliegen des NSU an die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe gingen, waren die angeblich fingierten Vernehmungen verschwunden. Wo sind sie?

Nicht nur Dorothea Marx (SPD), die Vorsitzende des Thüringer NSU-Ausschusses, fragte sich, warum der Untersuchungsausschuss von Baden-Württemberg, der nur zwei Jahre tagte und weit vor dem Ende der Legislaturperiode seine Arbeit eingestellt hat, diese Überprüfungen nicht vorgenommen hat. Mit nur zwei Sitzungen zum Heilbronner Polizistenmord haben die Thüringer aufgezeigt, wie oberflächlich die Baden-Württemberger ihrem Auftrag nachgekommen sind. In Erfurt läuft die Zeit dagegen ab, im Oktober wird ein neuer Landtag gewählt.

Grundlegende Fragen im Fall Kiesewetter sind weiterhin offen. Auch für einen weiteren Kollegen des Onkels der getöteten Polizistin, ebenfalls Kriminalbeamter in Saalfeld: Was war das Motiv? Was führte zur Auswahl der Opfer? Und vor allem: Welche Rolle hat Michèle Kiesewetter, weil sie Polizeibeamtin war, in dem Gesamtgeschehen gespielt? Waren die beiden Kollegen Zufallsopfer oder handelte es sich um eine zielgerichtete Aktion?

Für den letzten Chefermittler der Mordkommission, Axel M., dagegen ist der Fall "ausermittelt". Alles sei von "links nach rechts gebürstet" worden, der Mord in seinen Augen aufgeklärt, die Täter seien Böhnhardt und Mundlos. Bei genauer Betrachtung entpuppten sich diese Worte eher als Glaubensbekenntnis eines loyalen Beamten im Range eines leitenden Kriminaldirektors, der sich politischen Vorgaben gebeugt hat, denn als faktengestützte Überzeugung.

Beispiel Funkzellendaten: Der Abgleich wurde so lange verschoben, bis manche Datensätze gelöscht waren. Beispiel offene DNA-Spuren und ein Handflächenabdruck: Auf Anordnung der Bundesanwaltschaft (BAW) nicht weiter verfolgt. Oder: Warum die Täter den Opfern nicht nur die Dienstpistolen abnahmen, sondern auch Kleinigkeiten wie ein Multifunktionstool, wofür sie dann riskanterweise länger am Tatort verweilen mussten: Die Ermittler wissen es nicht.

Konnte beim Abgleich von Personenlisten mit dem Namen Kai Ulrich S. aus Heilbronn, der einerseits zu Böhnhardt und Mundlos Kontakt gehabt haben kann und andererseits den toten NSU-Zeugen Florian H. kannte, eine Verbindung zum Kiesewetter-Komplex hergestellt werden? Er kenne den Namen erst, seit er im Januar 2019 im Thüringer Ausschuss fiel, so Axel M. Notiert hatte ihn seine SoKo-Mitarbeiterin allerdings bereits im November 2011 bei den Lagebesprechungen der Polizei in Gotha nach dem Auffliegen des NSU-Trios.

Auch die Frage, wer noch zum NSU gehörte, sei Sache des GBA

Aus einigen seiner Antworten war aber eine gewisse Distanzierung zur offiziellen Version heraushörbar. Wie passt zusammen, dass die SoKo Parkplatz vor November 2011 von mehreren Tatbeteiligten ausging und heute nur Böhnhardt und Mundlos die Alleintäter sein sollen? Diese Einschätzung obliege dem Generalbundesanwalt (GBA) und nicht dem LKA, erklärte Axel M. Dann fügte er ungefragt an: Auch die Frage, wer noch zum NSU gehörte, sei Sache des GBA.

NSU also doch mehr als nur ein Trio? Schon im Januar hatte eine Kriminalbeamtin des LKA Baden-Württemberg im Thüringer Ausschuss erklärt, die Attentäter in Heilbronn müssen "Helfer" gehabt haben. Zeichen einer beginnenden Absetzbewegung im LKA vom NSU-Dogma der Bundesanwaltschaft?

Schließlich näherte sich auch der SoKo-Leiter einer der Fragen an, die sich in den Reihen der Polizei immer lauter stellen: die nach dem Motiv des Anschlags. Auch Martin A., der ihn mit einem Kopfschuss nur knapp überlebte, hatte sie im Prozess in München aufgeworfen. Nun erklärte Axel M., es wäre schön, wenn man der Familie Kiesewetter zumindest sagen könnte, warum der Mord geschah. Doch dieses Warum gebe es nicht.

Warum kann der Staat einen Polizistenmord nicht aufklären? Weil er beteiligt ist? Weil der Polizeiapparat eine Rolle spielt? Ungeklärte Spuren führen in die Reihen der Polizei, wie nicht nur die Manipulation der Ermittlungsakten zeigt. Michèle Kiesewetter gehörte zu einer Sondereinheit der baden-württembergischen Polizei, der so genannten "Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit" (BFE). Die wurde sowohl bei Demonstrationen eingesetzt als auch beim Objektschutz oder bei der Drogenfahndung. Kiesewetter gehörte zum Einsatzzug BFE 523 sowie zum Zivilen Aufklärungstrupp ZAT, versah den Dienst in Uniform, aber als "Nicht offen ermittelnde Polizistin" (NoeP) auch in ziviler Kleidung. Sie fungierte als Drogenscheinaufkäuferin und konsumierte dabei selber Drogen, spielte den Lockvogel und öffnete bei Razzien die Türen von Diskotheken. Dabei kam es immer wieder zu Konflikten mit der Organisierten Kriminalität (OK).

Die BFE-Polizisten trainierten in einem Fitnessstudio, in dem auch Leute aus der Türsteherszene sowie Drogendealer verkehrten. Einer von Kiesewetters Vorgesetzen, Truppführer im Zug 523, war Ringo L., heute Ringo M., der ebenfalls aus Thüringen stammt, Eisenach.

Ringo L. / M. legte Wert auf Drill. Einmal ließ er seine Untergebenen 1.000 Liegestützen innerhalb einer Stunde machen. Einer der Beamten soll danach überlegt haben, ihn wegen Körperverletzung anzuzeigen. Michèle Kiesewetter habe sich über ihren Truppführer "ausgekotzt", sagte ein Kollege in einer Vernehmung nach dem Mord aus. Das habe er in einem Gespräch mit ihr "ausgeräumt", erklärte Ringo L. / M. jetzt als Zeuge vor dem NSU-Ausschuss in Erfurt.

Er bestätigte, dass einmal ein Einsatz in einer Diskothek aus dem Ruder lief und "in die Hose ging", weil er einen Fehler gemacht habe. Es kam zu körperlichen Auseinandersetzungen mit den Türstehern. Bei der Aktion war Kiesewetter als zivile Kraft eingesetzt. In welcher Weise sie agierte, gestattete der Vertreter des Landes Baden-Württemberg dem Zeugen nicht zu sagen.

In der fraglichen Diskothek soll auch ein weiterer Mann als Türsteher gearbeitet haben, so Katharina König-Preuss (Linke), der zum Umfeld des NSU zu zählen ist und nach eigener Aussage vor dem Untersuchungsausschuss in Stuttgart in die Beschaffung von Waffen an ein Mitglied des Thüringer Heimatschutzes einbezogen gewesen sein will: Jug P. Diese Personalie war dem Zeugen Ringo L. / M. kein Begriff. Dem SoKo-Leiter Axel M. allerdings schon. Eine Spur, der man hätte nachgehen sollen, bestritt er aber.

Die Beispiele zeigen, wie die offizielle Umpolung auf die angeblichen Täter von Heilbronn, Böhnhardt und Mundlos, die Ermittlungen beeinflussten.

Verbindungen mit Uniter

Ringo M., ehemals L., ist inzwischen aus einem weiteren Grund von öffentlichem Interesse geworden. In seiner Person verbindet sich der Kiesewetter-Mord nicht nur mit der BFE-Polizeieinheit, sondern auch mit dem Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) Baden-Württemberg und dem obskuren Verein "Uniter", der seit einigen Wochen in den Schlagzeilen ist. Ringo M. hat Uniter mitgegründet. Deshalb wollte der Zeuge vor dem Ausschuss nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit vernommen werden, was der jedoch ablehnte.

"Uniter" ist ein halb-öffentlicher, halb-konspirativer Verein, in dem sich Ex-Soldaten, Polizisten und Vertreter von Sicherheitskräften zusammengeschlossen haben. In seinen Reihen finden sich aber auch Ärzte, Anwälte, Professoren, Politiker oder ganze Firmen, also Teile des Establishments, was der Organisation den Charakter einer Loge verleiht. Es herrscht das Kooptionsprinzip: Über die Aufnahme eines Neumitgliedes entscheiden die Führungspersonen.

Personelle Überschneidungen gibt es mit paramilitärischen so genannten "Prepper"-Soldaten, die sich heimlich bewaffnen und auf den "Tag X" vorbereiten, an dem die Waffen zum Einsatz kommen sollen.

Außerdem bestehen Berührungsflächen mit konspirativen sicherheitsstaatlichen Strukturen wie dem Kommando Spezial-Kräfte (KSK) der Bundeswehr. Einer der Uniter-Führungsleute gehörte zum KSK. Das Ganze erinnert an "Gladio" und die geheimen nationalen Stay-Behind-Einheiten der NATO, die nach dem Zusammenbruch der West-Ost-Weltordnung 1989 entdeckt wurden. Aufgeklärt wurden diese Strukturen in Deutschland nie. "Gladio" bedeutet "Schwert" und hatte ein Schwert als Symbol. Das Schwert ist auch das Zeichen von Uniter. Entstand Uniter aus den Reststrukturen von Gladio?

Auch die BFE von Baden-Württemberg, die meist banalisierend nur "Bereitschaftspolizei" genannt wird, tatsächlich aber eine Polizeisondereinheit mit Spezialaufträgen ist, passt zu dieser Struktur. Zumal verschiedene Mitglieder Anfälligkeiten für Konspiratives und Autoritäres zeigten: BFE-Mann Timo H., der am Tag des Polizistenmordes ebenfalls in Heilbronn und unmittelbarer Vorgesetzter von Kiesewetter war, machte Jahre vorher in einer rassistischen Ku-Klux-Klan-Gruppe in Schwäbisch Hall mit, was aber erst 2012 bekannt wurde. BFE-Mann Martin H. sitzt heute für die nationalistische und fremdenfeindliche AfD im Bundestag.

Chef der BFE-Einheit 523, zu der Ringo M. / L. wie Michèle Kiesewetter zählten, war Thomas B., der heute ebenfalls Kontakt zu Uniter unterhält. 2006, zu Zeiten Gaddafis, trainierte er zum Beispiel in Libyen Polizeikräfte. Ob als Privatmann darf bezweifelt werden, denn auch die Grenzpolizei Weißrusslands mit seinem Diktator Lukaschenko wurde ganz offiziell von der Bundespolizei ausgebildet.

Auch Uniter führt Polizei- und Militärberatungen im Ausland durch und ist allem Anschein nach Teil dieser Jahrzehnte langen tradierten und immer wieder transformierten Strukturen.

Ringo M. / L., 46 Jahre alt, war von Anfang an dabei, als die BFE-Einheiten aufgestellt wurden. 2013 wechselte er ins baden-württembergische Innenministerium und 2015 dann zum Verfassungsschutz des Landes, wo er in der Abteilung für internationalen Extremismus und Terrorismus tätig war. Er war bei der Gründungsversammlung von Uniter im Mai 2016 in Stuttgart dabei.

Als sein Engagement für den Verein im März 2019 bekannt wurde, versetzte ihn der Innenminister umgehend. Da wusste Thomas Strobl schon seit Wochen von der Personalie.

Ringo M. erschien, obwohl krankgeschrieben, vor dem Ausschuss in Erfurt und wollte vor allem eines loswerden: Er habe mit Rechtsextremismus sein "ganzes Leben" nichts zu tun gehabt und der Verein Uniter auch nicht. Er habe mitgemacht, weil er helfen und "etwas Nützliches" tun wollte. Auch mit den "Preppern" habe er weder zu tun noch Kenntnis von ihnen gehabt.

Dann sagte er noch einen Satz, der aufhorchen lässt: Er habe keine Personen aus dem "alten Verein" kennengelernt. Niemand im Ausschuss hatte von einem "alten Verein" gesprochen. Lediglich die Frage war aufgeworfen worden, ob es vielleicht eine Vorgängerorganisation gegeben hat.

Tatsächlich ist nicht so ganz klar, wie lange der Uniter-Verein schon existiert. In einem Bericht der Südwest Presse ist davon die Rede, er sei 2010 aus einem Zusammenschluss von Kommandoeinheiten der Bundeswehr und der Polizei sowie der NATO entstanden. Der Deutschlandfunk hat sogar berichtet, Uniter sei 2007 ins Leben gerufen worden und habe 1.800 Mitglieder. Auf der Webseite des Vereins ist unter anderem von "Uniter 2.0" die Rede.

Gibt es also doch Vorgängerstrukturen, die sich bis heute durchziehen, aber immer wieder vielleicht Gestalt und Namen wechseln und auch in Baden-Württemberg existierten?

Als das Ausschussmitglied König-Preuss ein solches Szenario skizziert und dann den Gedanken anschließt: "Wir fragen uns, ob das mit dem Mord an Michèle Kiesewetter zu tun hat", antwortet der frühere Kollege des Opfers überraschend: "So, wie Sie die Frage stellen, ist sie richtig." Und dann fügt er den Satz an, er habe keine Personen aus dem alten Verein kennengelernt.

_______________________________________________


Berliner Morgenpost Online, 09.04.2019:

Mordfall Bektaş: Initiative fordert Untersuchung

09.04.2019 - 19.18 Uhr

Nach sieben Jahren ist der Mord an dem jungen Neuköllner Burak Bektaş noch immer nicht aufgeklärt.

Von Antea Obinja

Berlin. Angehörige des vor sieben Jahren in Neukölln erschossenen Burak Bektaş und eine Initiative zur Aufklärung des Mordes fordern einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss, der die Arbeit des Landeskriminalamtes (LKA) Berlin beleuchten soll. Der 22-jährige Bektaş wurde am Abend des 5. April 2012 unweit von seinem Zuhause im Süden Neuköllns auf offener Straße von einem Unbekannten getötet, als dieser gezielt und scheinbar ohne Motiv auf die Jugendlichen schoss. Alex A. und Jamal A., damals 16 und 17 Jahre alt und mit Bektas unterwegs, wurden schwer verletzt. Bektaş erlag später im Krankenhaus seinen schweren Verletzungen.

Kritik an Berliner Ermittlungsbehörden

Die "Initiative zur Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş" und der Anwalt der Familie übten bei einer Gedenkveranstaltung am vergangenen Sonntag heftige Kritik an den Berliner Ermittlungsbehörden. Zum einen warfen sie der Polizei vor, dem Verdacht auf ein rassistisches Motiv in den Ermittlungen nicht ausreichend nachgegangen zu sein. Außerdem bezeichneten sie die Ermittlungen als oberflächlich. So seien wichtige Kameraaufzeichnungen aus der Tatnacht nicht rechtzeitig gesichert und mögliche Zeugen nicht oder erst spät befragt worden. Es habe sich außerdem durch parlamentarische Anfragen ergeben, dass es neben der Ermittlungsakte zum Fall Burak Bektaş noch eine weitere Akte geben muss, die der Familie Bektaş vorenthalten werde, so der Vorwurf.

Anwalt fordert Einsicht in alle Akten

Lukas Theune, Anwalt der Familie, erklärte im Gespräch mit der Morgenpost, sie schlössen dies aus einem Vermerk in der Ermittlungsakte: Dieser besage, dass zusätzlich zur Mordkommission, dem LKA 1, auch der Polizeiliche Staatsschutz, das LKA 5, im Fall Burak Bektaş ermitteln sollte. Man sei also davon ausgegangen, dass es bei dem Mord einen politischen Hintergrund gebe. "Was der Staatsschutz gemacht hat, weiß man aber nicht, diese Akte kennen wir nicht." Anwälte und Initiative forderten, die Akten zusammenzuführen.

Die Polizei verweist bei Nachfragen auf die Staatsanwaltschaft. Dort blieben Nachfragen der Berliner Morgenpost bis Redaktionsschluss am Dienstagabend unbeantwortet.

200 Menschen gedachten in Neukölln des Ermordeten

Anlässlich des Gedenkens an den Mord kamen am vergangenen Sonntag rund 200 Menschen an den wenige Meter vom Tatort entfernten Gedenkort für Burak Bektaş. Auf einer Grünfläche steht die 2018 eingeweihte Skulptur der Künstlerin Zeynep Delibalta. Es kamen Angehörige von Bektaş, Freunde, Betroffene rassistischer Gewalt, Nachbarn und Menschen, die sich in Berlin gegen Rechtsradikalismus engagieren. In diesem Jahr stand vor allem die fehlende Aufklärung rechter und rechtsextremer Gewalt im Mittelpunkt. Burak Bektaş Großmutter eröffnete das offizielle Gedenken und sagte, dass sie sich ein friedliches Zusammenleben wünsche, eines ohne Krieg. Sie hätten bereits ein Opfer gegeben und würden kein weiteres geben.

Bereits im August 2012 gründete sich die "Initiative zur Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş". Ralf Sommer, Gründungsmitglied, sagte: "Es war nur wenige Monate, nachdem die Morde des NSU öffentlich wurden und gerade viel diskutiert wurde. Dann gab es den Mord hier, und das hat Menschen in Neukölln alarmiert." Helga Seyb von der "Initiative zur Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş" erklärte: "Es braucht Untersuchungen darüber, was das LKA Berlin daran hinderte, die Taten aufzuklären, die es seit vielen Jahren in Neukölln gibt."

Der Fall Luke Holland

Drei Jahre nach dem Mord an Burak Bektaş geschah in Neukölln ein weiterer Mord, der erstaunliche Parallelen zum Fall Bektaş aufweist. Der Wahlberliner und Jurist Luke Holland wurde am 2. September 2015 vor einer Bar an der Ringbahnstraße erschossen, als er zum Telefonieren vor die Tür trat. An dem Abend hatte Rolf Z., auch Gast im "Del Rex", die Bar bereits verlassen. Rolf Z., der nur ein paar Häuser weiter wohnt, kam öfters in "Del Rex", wie der Besitzer später dem Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) erzählte. Im Gerichtsverfahren wurde später rekonstruiert, dass er nach Hause gegangen sein musste, um sich zu bewaffnen. Als er zurückkam, erschoss er Luke Holland mit einem Schrotgewehr. Rolf Z., bei dem zahlreiche Nazi-Devotionalien und Waffen gefunden wurden, wurde am folgenden Tag festgenommen und ein Jahr später, am 11. November 2017, im Alter von 63 Jahren wegen Mordes zu elf Jahren und siebzehn Monaten Gefängnis verurteilt. Er schwieg während des Prozesses. Trotz der Nazi-Devotionalien, darunter eine Hitler-Büste, und der Aussage, dass er sich geärgert hätte, dass "in der Bar niemand mehr Deutsch spreche", stellte der Richter kein fremdenfeindliches oder rassistisches Motiv fest.

Luke Hollands Eltern gingen hingegen von einer rassistischen Tat aus und glaubten, dass Rolf Z. auch Burak Bektaş erschossen hat. Sie sagten dem RBB: "Wir sind überzeugt, dass unser Sohn Luke noch leben würde, wenn sie damals gründlicher ermittelt hätten." Aus diesem Grund halten die Hollands die Behörden bis heute für mitschuldig am Tod ihres Sohnes.

Verdächtiger tauchte in Akten auf

Brisant ist, dass der Name Rolf Z. bereits als Verdächtiger in den Akten zum Fall Burak Bektaş auftauchte, die ermittelnden Behörden der Spur aber laut der "Initiative zur Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş" nicht ausreichend nachgegangen seien. Nach Aussage der Initiative wurde Rolf Z. im Rahmen der Ermittlungen zum Mord an Burak Bektaş nicht verhört, obwohl es einen Hinweis gegeben hatte, der ihn als möglichen Tatverdächtigen in Betracht zog. So habe sich ein Zeuge gemeldet, der Rolf Z. kannte und der von ihm nach scharfer Munition gefragt wurde. Außerdem erinnerte sich der Zeuge, Rolf Z. an einem Abend mit dem Auto, unweit des Tatorts, abgesetzt zu haben. Rolf Z. hätte aber gesagt, dass er zu seinem Schwager "rumballern" wolle, erzählt Helga Seyb von der "Initiative zur Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş".

Revolver wurde bei Verdächtigem gefunden

Wie der RBB im April 2018 öffentlich machte, wurde bei Rolf Z. außerdem ein Revolver "Armi Jäger", Kaliber 357, gefunden, der auf eine Verbindung der beiden Taten hinwies. Außerdem fand das LKA laut RBB am Revolver Schussrückstände, die den Schmauchspuren an der Kleidung der Verletzten ähnelten. "Eine eindeutige Zuordnung durch eine ballistische Untersuchung war wegen dem Zustand des Revolvers nicht möglich", heißt es in dem RBB-Bericht.

Anschlagsserie in Neukölln lässt Menschen nicht los

Beim Gedenken an Bektas waren auch immer wieder die Anschläge und Bedrohungen in Neukölln Thema, die den Bezirk seit 2016 in Atem halten und mutmaßlich rechtsextremistisch motiviert sind. Viele der Anwesenden und Redner sahen Parallelen zum Mord an Bektaş: Auch hier wurden über einen langen Zeitraum keine Täter ermittelt. Ferhat Kocak, der selbst im vergangen Jahr Opfer eines mutmaßlich rechtsextremen Brandanschlages wurde, sprach auf der Gedenkveranstaltung und forderte einen öffentlich tagenden parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Dieser müsse klären, warum das LKA die Täter der Anschlagsserie noch immer nicht gefasst habe.

55 mutmaßlich rechtsextreme Angriffe in Neukölln

Die Liste, die die "Mobile Beratung gegen Rechts" (MBR) angelegt hat, ist lang, sie zählt nach dem heutigen Stand insgesamt 55 rechtsextreme Angriffe nur in Neukölln innerhalb der letzten drei Jahre. Hinzu kommt der Diebstahl von rund 16 Stolpersteinen, die der MBR demselben Täterkreis zurechnet. Die Bandbreite der Anschläge reicht von Schmierereien und Bedrohungen über Stein- und Farbflaschenwürfe durch Fenster und Sachbeschädigungen bis zu Brandanschlägen auf Pkw und Wohnhäuser.

Zwei Szenegrößen stehen im Fokus

Im Fokus standen immer Menschen, die sich in Berlin gegen Rechtsextremismus engagieren. Im letzten Jahr brannten in der Nacht zum ersten Februar in Neukölln zwei Autos: bereits zum dritten Mal das Auto des Buchhändlers Heinz Ostermann und das Auto des Linken-Politikers Ferat Kocak. Der Smart von Kocak stand direkt an der Häuserwand in der Nähe der Gasleitung. Es sei reines Glück gewesen, dass er und seine Eltern, die im Haus schliefen, überlebten, sagte Kocak damals. Anfang des Jahres wurde klar, dass die Berliner Polizei Kocak hätte warnen können. Wie die Berliner Morgenpost im Dezember berichtete, hatten die Sicherheitsbehörden bereits zwei Wochen vor dem Anschlag auf Kocak Hinweise, dass der Linke-Politiker von den beiden szenebekannten Rechtsextremisten Sebastian T. und Thilo S. ausgespäht worden sein soll. Informiert wurde der Politiker nicht.

Hausdurchsuchungen, aber keine Festnahmen

Nach dem Anschlag folgten Hausdurchsuchungen bei T. und S. - aber keine Festnahmen. Als die Ermittlungen von der Generalstaatsanwaltschaft Berlin Ende 2018 teilweise eingestellt wurden, forderten Betroffene und Politiker, darunter der Bürgermeister von Neukölln, Martin Hikel (SPD), in einem offenen Brief den Generalbundesanwalt in Karlsruhe auf, die Ermittlungen zu übernehmen, was aber angelehnt wurde.

Mitte März tauchten neue Drohungen auf

Mitte März dieses Jahres tauchten auch noch neue Graffitis in und an Häusern auf. "Wir wissen sicher von vier Schmierereien, es könnten aber auch mehr sein. Zwei davon sind als klare Morddrohungen zu verstehen", sagte Matthias Müller von der MBR. Eine Drohung richte sich direkt gegen einen Mitarbeiter der Beratungsstelle. Unter anderem "9mm für … " und dann der Name der betroffenen Person oder "Kopfschuss für … " ist dort zu lesen gewesen. Die MBR vermutet, dass die Drohungen auf das Konto von Verdächtigen aus der Neonazi-Szene in Neukölln gehen - die Auswahl der Personen, die Schriftzüge und die Farbe tragen eine ähnliche Handschrift wie die Angriffe in den vergangenen Jahren. Außerdem deute alles darauf hin, dass die Täter sich in Neukölln auskennen würden. Neu seien aber die Morddrohungen, so Müller.

Angehörige wollen Klarheit

Bei der Aktuellen Stunde des Abgeordnetenhauses am 21. März stellte auch Innensenator Andreas Geisel (SPD) die Verbindung zu den früheren Anschlägen her und betonte, dass alles getan werden müsse um die Täter dingfest zu machen. Es handele sich hierbei durchaus um Anschläge, die als Terrorismus eingestuft werden können. Es würde momentan geprüft, ob die Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe die Ermittlungen doch übernehmen könne. Die Familien der Angehörigen und die Betroffenen wünschen sich endlich Klarheit - über die Angriffsserie in Neukölln und über den Mord an Burak Bektaş.

Bildunterschrift: Burak Bektaş wurde vor sieben Jahren erschossen. Eine Statue erinnert an ihn.

_______________________________________________


Blick nach Rechts, 09.04.2019:

Haft für braunen Hetzredner?

Von Jennifer Marken

Der Europawahl-Kandidat der "Rechten" und führende Neonazi Christoph Drewer ist in den vergangenen Jahren immer wieder ins Visier der Justiz geraten. Vor dem Landgericht Dortmund musste er sich jetzt erneut wegen einer hetzerischen Rede verantworten.

Christoph Drewer, langgedienter Dortmunder Neonazi, der auf Platz 9 der Europawahlliste der Minipartei "Die Rechte" steht, machte sich als Kampfsportler durch seine militanten, Gegner bedrohenden Auftritte bei Kundgebungen einen Namen. Damit könnte es demnächst vorbei sein: Das Landgericht Dortmund verurteilte ihn jetzt - nicht rechtskräftig - zu einer 13-monatigen Gefängnisstrafe.

Christoph Drewer war in den vergangenen 15 Jahren mehrfach zu Haftstrafen verurteilt worden, so wegen einer antisemitischen Rede im März 2012 in Münster. Der Neonazi vermochte einige der Strafen in der Revision jedoch abzuwenden. Nun könnte ihm seine vom Journalisten Felix Huesmann filmisch dokumentiert Hetzrede vom 7. September 2015 in Dortmund doch noch zum Verhängnis werden.

"Diese Menschen", brüllte Drewer demnach in Dortmund ins Mikrofon, "die momentan zu Tausenden in unser Deutschland strömen, sind kriminell, haben kein Benehmen und diese werden hier in unserem geliebten Vaterland ihre kriminelle Ader knallhart ausleben. Diese werden rauben, vergewaltigen und morden." Menschen, die sich für Flüchtlinge einsetzen, beschimpfte Drewer in seiner Rede als "geisteskranke Volksverräter". Den deutschen Frauen, so fügte er hinzu, wünsche er "eine Vergewaltigung durch die Asylbetrüger" (Blick nach Rechts berichtete am 10.09.2015).

Langjährige Neonazi-Karriere

Der 1987 in Hamm geborene Christoph Drewer gehörte schon 17-jährig zur harten Neonazi-Szene. In der 2003 gegründeten "Kameradschaft Hamm" war Drewer gemeinsam mit dem Neonazi Sascha Krolzig führend tätig. Im August 2012 wurde die "Kameradschaft Hamm" durch das NRW-Innenministerium verboten. Christoph Drewer, der heute als Bauarbeiter arbeiten soll, fiel bereits damals wegen seiner "exzessiver Gewaltausbrüche gegenüber alternativen Jugendlichen und Aktivisten" - wie es in einer Dokumentation heißt - auf. Es kam zu militanten Angriffen mit Teleskopschlagstöcken gegen junge Gegendemonstranten, im Mai 2006 wurden zwei Jugendliche schwer verletzt. Einen Monat später wurde der damals 19-jährige Drewer inhaftiert und später verurteilt (Blick nach Rechts berichtete am 05.07.2007).

Nach seiner Freilassung machte er, häufig gemeinsam mit seinem fünf Jahre jüngeren, gleichfalls hafterfahrenem Bruder Matthias, einem "Nazihipster" und "Anti-Antifa"-Fotografen, weiter: beim "Nationaler Widerstand Dortmund" sowie ab 2014 im Bundesvorstand von "Die Rechte". Er war auch bei der Kölner HoGeSa-Kundgebung ("Hooligans gegen Salafisten") im Oktober 2014 dabei, Anfang 2015 demonstrierte er bei der griechischen Neonazi-Partei "Goldene Morgenröte" mit.

Drewers Auftritt als Ordner im Juni 2016 beim "Tag der deutschen Zukunft" machte bundesweit Schlagzeilen und brachte die Polizei in Erklärungsnöte, war er doch zuvor erneut in erster Instanz zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Als Christian Worch im November 2017 überraschend sein Amt als Bundesvorsitzender der "Rechten" niederlegte, wurde Drewer für einige Monate dessen kommissarischer Nachfolger.

Kampfsport und Hooligans

Auch an Kampfsport-Events wie dem "Kampf der Nibelungen" war Christoph Drewer in führender Position beteiligt. Gemäß Berichten der Recherchegruppe "Runter von der Matte" sowie der Zeitschrift "Lotta" tritt Drewer seit Jahren beim "Kampf der Nibelungen" (KdN) als Kämpfer (Blick nach Rechts berichtete am 10.10.2018) und in jüngster Zeit auch als Trainer auf. Auch den "NS Fightclub Bulgaria" aus Sofia soll er regelmäßig besuchen.

Ferner baute er den rechten Fanklub "Supporters Hamm" auf. Als Teil einer Hooligan-Gruppe trat Drewer ebenso regelmäßig bei Spielen etwa des Chemnitzer FC im Kreis der rechten "Kaotic Chemnitz" in Erscheinung. Bei den von einer Chemnitzer Gruppe durchgeführten antisemitischen Angriffen gegen Fans des "SV Babelsberg 03" im November 2016 soll er einem Bericht der "taz" zufolge gleichfalls dabei gewesen sein.

Bildunterschrift: Neonazi Drewer als Hetzredner im September 2015 (YouTube-Screenshot).

_______________________________________________


Blick nach Rechts, 09.04.2019:

Deutschnationale Vereinsmeierei

Von Horst Freires

In Sachsen besteht ein umfängliches Netzwerk von rechtsgerichteten Vereinen mit Anschlussfähigkeit bis weit hinein ein breite Bevölkerungsschichten.

Eine gerade vorgestellte Broschüre des Kulturbüros Sachsen widmet sich einer seit 2015 zu beobachtenden Auffälligkeit als inhaltlichen Schwerpunkt: Die rechte Szene in dem Freistaat steuert demnach ihre Aktivitäten immer mehr über Vereine mit Anschlussfähigkeit bis weit hinein in bürgerliche Kreise und breitere Bevölkerungsschichten. Ein so entstandener Bewegungsapparat hat so mit dieser Struktur in der Fläche des Bundeslandes eine nicht zu übersehene Schlagkraft entwickelt.

In dem 42-seitigen jährlichen Reader mit dem Titel "Sachsen rechts unten" wird diese Entwicklung an Hand von Beispielen veranschaulicht und analysiert. Dabei werden Strategie, Ideologie, Motive, Zielsetzung, Umsetzung und Wirkung genauer unter die Lupe genommen. Letztlich wird sich auch bei der Europa-, Kommunal- und Landtagswahl zeigen, inwieweit sich in der Abbildung der dann zutage tretenden Ergebnisse das gesellschaftliche Einsickern von demokratiefeindlichem Denken und Handeln rechter Couleur parlamentarisch niederschlägt.

Zum "Nationalen Widerstand" animieren

Der Freistaat verzeichnet ein eng miteinander verzahntes Netz von ungefähr 30 Vereinen, die alle rechtsgerichtetes Gedankengut in die Breite tragen und gewollt eine Radikalisierung von populistischen Alltagsinteressen betreiben. Die gegenseitige Verflechtung erlaubt es auch, eine schnellere und größere Mobilisierung zu bewerkstelligen. Stetes interaktives Agieren und Kommunizieren über Soziale Medien spielt eine nicht geringe Rolle. Stramme Neonazis, Ewiggestrige, so genannte "Reichsbürger", neurechte Vordenker und Leitfiguren schüren dabei unter der Tarnung eines Vereines ein dramatisierendes Bild von Ängsten, einer angeblichen Notstandsstimmung, von gesellschaftlicher Bedrohung und Verunsicherung. All dies soll zu zivilem Widerstand animieren, der von rechter Seite verbal bekanntermaßen auch unverschleiert in der Demonstrationsparole "Nationaler Widerstand" auftaucht.

Die Publikation weist auf unterschiedliche Vereinsinhalte hin: Mal geht es um traditionelle Heimat- und Brauchtumspflege, dann wird sich um Geselligkeit und Kultur gekümmert und schließlich steht soziales Engagement für Bedürftige, Kinder, Familien und Tier-Wohl im Mittelpunkt. Jeweils im Fokus steht dabei die deutschnationale Komponente. Exemplarisch werden Vereine wie "Freigeist e.V." aus Schwarzenberg oder "Unsere Heimat - unsere Zukunft" (UHUZ) aus dem Erzgebirge genannt. Deren Wortführer stammen dabei in Person von Stefan Hartung aus der NPD ("Freigeist") und im anderen Fall bei Maik Arnold von der Neonazi-Partei "Der III. Weg".

Mosaikteile einer rechten Graswurzelbewegung

Als besondere Konstruktion wird die Initiative "Ein Prozent" mit Sitz im kleinen Ort Oybin (Landkreis Görlitz) vorgestellt. Dabei handelt es sich um eine am 17. Februar 2016 gegründete Plattform, die die meisten dieser rechtsorientierten Vereine bündelt, für diese einen Finanzierungspool darstellt und mediales Handwerkszeug zur Verfügung stellt. Die Köpfe dahinter sind in der neurechten und rechtspopulistischen Ecke zu verorten. Aus Sachsen kommen von ihnen Philip Stein (Jungeuropa Verlag, Dresden) und der eher öffentlichkeitsscheue Helge Hilse (Oybin).

All die Vereine sind nichts anderes als Mosaikteile einer rechten Graswurzelbewegung, die sich mit Nationalisierung und einer Ethnisierung sozialer Verteilungsfragen Bahn bricht. Deshalb ist auch den Kommunalwahlen solch große Bedeutung beizumessen, bei denen losgelöst von einer Fünf-Prozent-Sperrklausel regionale Verankerungsprozesse stattfinden.

Das Kulturbüro Sachsen ist seit 2001 Träger mobiler Beratungsangebote gegen Rechtsextremismus. Die Broschüre "Sachsen rechts unten" steht hier zum kostenlosen Download bereit:

www.kulturbuero-sachsen.de/wp/wp-content/uploads/2019/04/Sachsen_rechts_unten_2019_Kulturbuero-Sachsen_web.pdf

Bildunterschrift: Zahlreiche rechtsgestrickte Vereine im Freistaat (Screenshot).

_______________________________________________


Der Tagesspiegel Online, 09.04.2019:

Streit in Pankow eskaliert "Antifaneutralisierer": AfD-Fraktions-Chef posiert mit Maschinengewehr

09.04.2019 - 10.47 Uhr

Der Chef der AfD-Fraktion in Pankow verschickt ein Bild von sich mit einem Maschinengewehr. Nun beschäftigt sich der Landesvorstand mit dem Thema.

Von Robert Kiesel

Im Pankower AfD-Bezirksverband ist ein Streit um den als Bürgerdeputierter eingesetzten Andreas Geithe eskaliert. Im Zuge dessen wurde eine Bildaufnahme öffentlich, die Stephan Wirtensohn, Chef der AfD-Fraktion in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV), mit einem Maschinengewehr zeigt. Die mit dem Untertitel "Antifaneutralisierer" versehene Aufnahme hatte dieser seinem Kontrahenten Geithe per SMS-Kurznachricht verschickt. Er hatte damit dessen Gesinnung testen wollen, wie Wirtensohn dem Tagesspiegel sagte.

Er wirft Geithe vor, der rechtsextremen Szene anzugehören und in der Vergangenheit Mitglied der verbotenen Neonazi-Organisation "Nationalistische Front" gewesen zu sein. 2017 tauchte auf einem Twitter-Profil mit dem Namen Geithes unter einem Beitrag über Massenschlägereien unter Flüchtlingen die Forderung auf: "Wir sollten eine SA gründen und aufräumen." Geithe selbst bestreitet indes, dass es sich um seinen Twitter-Account handelt und die Nachricht von ihm stammt. Zuerst hatten das Lokalportal "Prenzlberger Stimme" über den Streit berichtet.

Der Streit zwischen Wirtensohn und Geithe beschäftigt mittlerweile den AfD-Landesvorstand. Dieser hatte Wirtensohn zu seiner Sitzung am Dienstag "vorgeladen", doch der Fraktionschef sagte den Termin ab. "Der Landesvorstand interessiert sich offenbar nur für eine Darstellung des Sachverhalts", sagte Wirtensohn. Er selbst hofft darauf, dass die BVV in einer Sondersitzung am Mittwoch Geithe von seiner Funktion als Bürgerdeputierter abberuft.

Brisant: Anders als zunächst dargestellt, ist Geithe nicht nur "einfaches Fördermitglied" des AfD-Bezirksverbandes. Der Chef einer Fliesenlegerfirma tritt auch als Vermieter der Wahlkreisbüros von Herbert Mohr, Ronald Gläser, Christian Buchholz und Hanno Bachmann in Erscheinung. Die vier gehören der AfD-Fraktion im Abgeordnetenhaus an, Gläser ist darüber hinaus Sprecher des AfD-Landesverbandes und Teil des Landesvorstands. Auch der AfD-Bezirksverband Pankow ist Mieter Geithes. Zur Höhe der Mietzahlungen wollte sich keiner der Beteiligten äußern, Geithe war für Rückfragen nicht zu erreichen.

Für Wirtensohn, gegen den laut AfD-Sprecher Gläser ein Parteiausschlussverfahren wegen "parteischädigenden Verhaltens" läuft, das Wirtensohn zufolge "ausgesetzt" ist, ist die Sache klar: "Die wollen Geld sparen und es sich in die eigenen Taschen stecken." Mohr und Gläser wiesen diesen Vorwurf zurück und unterstellten Wirtensohn, selbst finanzielle Probleme zu haben.

Bildunterschrift: Der Streit innerhalb der Pankower AfD beschäftigt nun auch den Landesvorstand.

_______________________________________________


Hessenschau.de, 09.04.2019:

AfD stoppt Lokalpolitiker nach Rechtsextremismus-Vorwürfen

09.04.19 - 17.18 Uhr

Ämtersperre vor Vorstandswahl

Der Verfassungsschutz sieht bei ihm ein rechtsextremistisches Weltbild, ein Prozess wegen Volksverhetzung steht ihm bevor: Trotzdem hatte Carsten Härle gute Chancen, am Samstag Chef des AfD-Kreisverbands Offenbach zu werden. In letzter Minute stoppte ihn die eigene Partei.

Von Jonas Fedders

Der Landesvorstand der hessischen Alternative für Deutschland (AfD) hat den Kommunalpolitiker Carsten Härle aus Heusenstamm (Kreis Offenbach) mit einer Ämtersperre belegt. Das bestätigte Härle am Dienstag auf Anfrage des hr. Das Verbot, ein politisches Amt in der AfD zu übernehmen, gilt demnach mit sofortiger Wirkung für zwei Jahre. Hintergrund sind offenbar umstrittene Äußerungen des 50-Jährigen in den Sozialen Netzwerken.

Der Landessprecher der hessischen AfD, Klaus Herrmann, wollte die Entscheidung auf Anfrage weder bestätigen noch dementieren. Zu laufenden Parteiordnungsverfahren mache man grundsätzlich keine Angaben, sagte er. Besonders brisant: Härle wollte am Samstag für den Vorsitz des AfD-Kreisverbandes Offenbach-Land kandidieren.

Mit der Ämtersperre hat der Landesvorstand den Ambitionen Härles in letzter Minute einen Riegel vorgeschoben. In der Begründung attestiert der Landesvorstand Härles geplanter Kandidatur "gute Aussichten".

Vorwürfe "völlig absurd"?

Härle bewertete den Schritt der Landespartei als "völlig absurd" und sprach von "haltlosen Vorwürfen". Seine eigene Meinung sieht er ganz auf der Basis des Parteiprogramms und des Grundgesetzes. Dem Landesvorstand warf Härle seinerseits "parteischädigendes Verhalten" vor. Er wolle prüfen, ob er gerichtlich im Eilverfahren gegen die verhängte Ämtersperre vorgehen könne.

In dem Schreiben des Landesvorstandes wird angeführt, dass Härle bei Facebook einen Beitrag teilte, der sich unter anderem mit der AfD-Politikerin Doris von Sayn-Wittgenstein solidarisierte. Sayn-Wittgenstein war im Dezember aus der AfD-Landtagsfraktion in Schleswig-Holstein ausgeschlossen worden. Sie hatte für den als rechtsextrem eingestuften Verein "Gedächtnisstätte e.V." geworben.

Der Landesvorstand kam nun zu dem Ergebnis, dass Härle mit derartigen Beiträgen gegen die Ordnung der Partei verstoßen habe. "Sein Verhalten gefährdet die Einheit der Partei und beschädigt die handelnden Vorstände und damit die Partei in der Öffentlichkeit."

Über Hitler und den Krieg sinniert

Härle sitzt für die AfD in der Stadtverordnetenversammlung von Heusenstamm und ist Vorsitzender der Fraktion. Das kann er auch bleiben - die Ämtersperre bezieht sich nur auf Parteiposten.

Der 50-Jährige hatte sich in der Vergangenheit schon mehrfach den Vorwurf zugezogen, geschichtsrevisionistische Äußerungen zu verbreiten. So hatte er bei Facebook bestritten, dass der Zweite Weltkrieg "irgendetwas mit Hitler oder dem Nationalsozialismus zu tun gehabt" habe.

Härle sinnierte auch schon einmal über die "Plausibilität und Effektivität" des Massenmordes mit Zyklon B. Das Giftgas hatten die Nationalsozialisten für die massenhafte Vergasung in Vernichtungslagern eingesetzt.

Gutachten: Rechtsextremistisches Weltbild

Im Januar hatte der Verfassungsschutz bekannt gegeben, dass die AfD künftig als "Prüffall" behandelt werde. Es lägen "erste tatsächliche Anhaltspunkte für eine gegen die freiheitliche-demokratische Grundordnung ausgerichtete Politik der AfD" vor. Kurz darauf hatte der hr bekannt gemacht, dass Carsten Härle an dieser Einstufung nicht ganz unbeteiligt gewesen sein dürfte. Denn das vertrauliche Gutachten des Verfassungsschutzes nennt dessen Namen gleich mehrfach.

So notierte der Geheimdienst etwa, dass Härle bei Facebook das Video eines Aktivisten der rechtsextremen "Identitären Bewegung" geteilt habe und mit einem NPD-Mann befreundet sei. Härles Verlautbarungen sprächen "durchaus für ein geschlossenes rechtsextremistisches Weltbild", resümierten die Verfassungsschützer.

Unmittelbar nachdem Härles prominente Rolle in dem Verfassungsschutzgutachten bekannt geworden war, hatte der Landesvorstand mitgeteilt, ein Parteiausschlussverfahren gegen Carsten Härle in die Wege leiten zu wollen. Der Heusenstammer vertrete Positionen, die in der AfD nichts zu suchen hätten. Landessprecher Robert Lambrou sagte seinerzeit: "Mich ekelt es an, was Herr Härle so alles äußert."

Prozess wegen Volksverhetzung verschoben

Härle hätte sich an diesem Dienstag wegen Volksverhetzung vor dem Amtsgericht Offenbach verantworten sollen. Die Verhandlung ist aber vom Gericht auf den 6. Juni verschoben worden. Der AfD-Politiker sieht dem Prozess nach eigenen Angaben gelassen entgegen und rechnet mit einem Freispruch.

Bildunterschrift: AfD-Politiker Carsten Härle im hr-Kandidatencheck.

_______________________________________________


Neue Westfälische, 09.04.2019:

Strafbefehl gegen AfD-Ratsherrn

Münster (lnw). Gegen einen AfD-Ratsherren in Münster ist Strafbefehl wegen Körperverletzung erlassen worden. Er soll vor knapp einem Jahr bei einer AfD-Veranstaltung in der Stadtbücherei in Münster einen Gast unsanft herausbefördert haben, sagte ein Sprecher des Amtsgerichts Münster auf Anfrage. Der Betroffene habe dem Vorwurf zufolge an Schulter und Oberarm eine Schwellung davongetragen, außerdem einen geprellten Finger. Der Strafbefehl sei nicht rechtskräftig, Einspruch möglich. Der Ratsherr sagte laut Westfälischen Nachrichten, er werde den Strafbefehl nicht akzeptieren und Einspruch einlegen. Der Fall landet damit dem Gerichtssprecher zufolge voraussichtlich in einer Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht.

_______________________________________________


zurück