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OWL am Sonntag / Bielefeld am Sonntag , 23.10.2016 :

Grabsteine legen Zeugnis ab / Vor 125 Jahren erhielt Jüdische Gemeinde die Erlaubnis, einen neuen Friedhof anzulegen

Von Sabine Schulze

Bielefeld. "Gehorsamst" ersuchte die Jüdische Gemeinde in Bielefeld im September 1886 bei der Regierung in Minden um die Genehmigung, ein Grundstück ankaufen zu dürfen, um einen Friedhof anzulegen.

Und "ergebenst" wurden die erforderlichen Unterlagen eingereicht. Das Antwortschreiben kam rasch - voller Auflagen. Die Genehmigung folgte dann fünf Jahre später: vor 125 Jahren.

Damit durfte die Jüdische Gemeinde am Haller Weg, in direkter Nachbarschaft zum 1874 eröffneten städtischen Johannisfriedhof, einen neuen Friedhof anlegen. 15.000 Mark nahm sie dafür auf, um der Witwe Bollbrinker das Grundstück abkaufen zu können.

Bis dahin hatte die Gemeinde ihre Verstorbenen auf dem jüdischen Friedhof am Bolbrinkersweg beerdigt. Der allerdings war an seine Kapazitätsgrenzen gestoßen, und einer Erweiterung stimmte die Regierung in Minden nicht zu: Die Nähe der Bebauung lasse das nicht zu.

Wann genau der neue Friedhof erstmals belegt wurde, ist bis heute nicht geklärt, schreibt Dagmar Giesecke vom Stadtarchiv in einem historischen Rückblick. Die ältesten Grabsteine dort aber sind nicht erst aus dem 19. Jahrhundert: Einige Grabsteine des alten jüdischen Friedhofs am Bolbrinkersweg wurden hierher versetzt. Einer der ältesten erinnert an die 1663 verstorbene "Frau Gitla, Tochter des Mose Meir seligen Angedenkens, Tag 4, Neumondstag des Adar nach der abgekürzten Zählung".

Dass die alten Grabsteine auf den neuen Friedhof versetzt wurden, ist ungewöhnlich: Denn jedes jüdische Grab ist ein geheiligter Ort der Toten und verspricht ihnen ewige Ruhe. "Es ist ein Haus für die Ewigkeit", erklärt Irith Michelsohn, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Bielefeld.

Eine Erklärung dafür könnte sein, ergänzt ihr Mann Paul Yuval Adam, dass die Gemeinde bereits Ende des 19. Jahrhunderts recht liberal war - vielleicht war man deshalb zu Konzessionen bereit. Und so ist der alte jüdische Friedhof später einfach überbaut worden - zuletzt durch den Ostwestfalendamm.

Zur jüdischen Tradition gehört, dass die Grabsteine aufrecht stehen. Allerdings: Steine, die irgendwann umfallen, bleiben meist liegen. "Es ist nicht üblich großartig zu restaurieren. Man lässt über die Gräber die Zeit hinweggehen", erklären Michelsohn und Adam.

Frau Gitla, Tochter des Mose Meir seligen Angedenkens.
Inschrift des ältesten Grabsteins, der zum Haller Weg versetzt wurde

In einige Grabsteine sind segnende Hände eingemeißelt: Zeichen der Zugehörigkeit zu einem Priestergeschlecht. "Davon leiten sich die Nachnamen Cohn, Cohen oder Katz ab", erklärt Adam. Auf anderen Steinen findet sich das Symbol einer Kanne oder eines Wasserkruges: Hier ruhen die Nachkommen der Leviten, ehemalige Tempelbedienstete, die für die rituelle Reinigung zuständig waren. Beide Traditionen werden über die männliche Linie vererbt. "Für die Nachfahren der Priester gelten strenge Regeln, sie dürfen keine geschiedene Frau und keine unehelich geborene Frau heiraten", erklärt Irith Michelsohn.

Wenn auch die Grabsteine der Friedhöfe in früheren Zeiten ein "begehrtes Baumaterial" waren, so Giesecke, blieb der Friedhof am Haller Weg während der NS-Zeit von Schändungen verschont. Allein als die "Reichsmetallspende" eingefordert wurde, wurden Buntmetallplatten, Einfassungen oder Metalllettern auf Grabsteinen gewaltsam entfernt und für die Rüstungsindustrie verwandt.

Dafür aber wurde der Friedhof von den beiden Bombenangriffen auf Bielefeld in Mitleidenschaft gezogen. Die erheblichen Schäden wurden von den Bielefelder Juden, die den Holocaust überlebt hatten, sofort nach Kriegsende beseitigt. 30 Mitglieder zählte die Nachkriegs-Gemeinde.

Gut 300 Mitglieder hat die Jüdische Gemeinde heute, hinzu kommen etwa 250 nicht-jüdische Familienmitglieder.

Bildunterschrift: Irith Michelsohn und Paul Yuval Adam an den ältesten Grabsteinen aus dem 17. Jahrhundert. Die Inschriften sind noch ausschließlich in hebräischer Sprache und Schrift.

Bildunterschrift: Der jüdische Friedhof ist nicht allgemein zugänglich. Nur die Gemeinde, die ihn auch pflegt, hat einen Schlüssel.

Bildunterschrift: Gedenksteine für die 388 Bielefelder Juden, die während der Shoa ermordet wurden oder Selbstmord begingen und für die im Ersten Weltkrieg Gefallenen.

Bildunterschrift: Blumen findet man kaum auf einem jüdischen Friedhof: Es werden Steine abgelegt.

Bildunterschrift: Die 400 Grabsteine sind nach Jerusalem ausgerichtet. Aber es gibt Ausnahmen.

Bildunterschrift: Das Grab der Familie Junkermann, eines der prächtigen auf dem Friedhof.


wb@westfalen-blatt.de

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