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Schaumburger Zeitung ,
09.04.1999 :
Flüchtlinge wollen nach Hameln: "Gefühle sind stärker als Gesetze"
Von Ulrich Behmann
Hameln. "Ich habe geweint wie ein Kind", sagt Milazim Gashi (30). 1992 ist der Kosovo-Albaner von Pristina via Regensburg nach Hameln geflüchtet. Gestern hat der junge Mann seine Familie wiedergesehen – zum ersten Mal seit sieben Jahren. Die Gashis wurden am Gründonnerstag aus ihrer Heimat vertrieben. Die serbische Miliz sei gekommen und habe gesagt: "Haut ab! Ihr habt fünf Minuten Zeit", berichtet Fadil Gashi (33). Der gelernte Bauzeichner wohnt und arbeitet seit 1993 in Hameln. Im Gegensatz zu seinem Bruder Milazim, der in Deutschland nur geduldet wird, ist er anerkannter Asylant. Mit einer Luftwaffenmaschine sind die Kosovo-Flüchtlinge in der Nacht zu gestern nach Nürnberg ausgeflogen worden. Tagelang hatten sie am Flugplatz der mazedonischen Hauptstadt darauf gewartet, evakuiert zu werden. Seit Mitternacht sitzt die 22-köpfige Familie in einem bayerischen Flüchtlingsheim und hofft, ihre Verwandten aus Hameln in die Arme nehmen zu können. Darauf werden die Gashis aber wohl noch Tage warten müssen. Die Familienzusammenführung ist vorerst nicht möglich, heißt es von Seiten der Behörden. Zunächst einmal sollen die 10.000, denen Deutschland Zuflucht angeboten hat, auf die einzelnen Bundesländer verteilt werden. "Verschiebungen sind im Augenblick nicht möglich", hat der DRK-Suchdienst vom Innenministerium erfahren.
Für die Gashis, die im Weserbergland eine neue Heimat gefunden haben, ein unerträglicher Zustand. "Wir möchten unseren Verwandten so gern Trost spenden – und dürfen nicht", sagt Fadil Gashi. Seine Augen werden feucht als er sagt: "Ich vermisse meine Eltern so sehr." Als Milazim Gashi erfuhr, dass seine Verwandtschaft nach Nürnberg ausgeflogen wird, hielt ihn nichts mehr in Hameln. Er setzte sich ins Auto und fuhr los. Dabei darf er den Landkreis gar nicht verlassen. "Die Gefühle sind stärker als Gesetze", sagt sein Bruder und zuckt mit den Schultern. "Sollte ich ihn abhalten?" Seit 5 Uhr früh wartet Milazim Gashi vor dem Tor, das ihm den Weg zu seinen Eltern, Brüdern, Schwestern, Cousins und Neffen versperrt. "Ich habe gebettelt wie ein Hund. Aber man lässt mich nicht zu ihnen", berichtet der junge Mann der Dewezet via Handy. Am Fenster hat er seinen Vater gesehen, ihm zugerufen: "Geht es Dir gut?" Er habe nur genickt und gesagt: "Wir leben." Daheim in Pristina wohnten die Gashis in vier Häusern. Sie konnten nur das Nötigste mitnehmen. Mit vier Autos fuhren die Kosovaren los in Richtung jugoslawisch-mazedonische Grenze. Vier Tage waren sie unterwegs. Die Straßen waren verstopft. Zigtausende befanden sich auf der Flucht. An der Grenze ließ die Familie auch ihre Wagen zurück, ging zu Fuß weiter. Nach 24 Stunden erreichten die Vertriebenen den Flughafen von Skopje. "Sie haben sich ein Handy geliehen und mich angerufen", sagt Fadil Gashi. "Uns fiel ein Stein vom Herzen: Alle hatten überlebt." Was ihnen im Kosovo wiederfahren ist, was sie erlebten, wollten sie am Telefon nicht sagen. Zu groß war die Angst, abgehört zu werden. Fadil Gashi erfuhr nur dies: "Meine Mama wollte in Mazedonien für die Familie Wasser holen. Auf der Flucht hatten alle tagelang kaum etwas trinken können. Grenzpolizisten haben Mutter weggestoßen und geschlagen." Zu gern würden die Gashis die Vertriebenen bei sich in Hameln aufnehmen. Das aber ist davon abhängig, ob die Flüchtlinge von Bayern nach Niedersachsen fahren dürfen. Fadil Gashi befürchtet: "Die Bürokratie verhindert eine Familienzusammenführung. Wenn die Städte und Kreise in Niedersachsen ihre Aufnahmequote erst einmal erfüllt haben, ist hier kein Platz mehr für meine Verwandten."
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