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Schaumburger Zeitung ,
17.04.1999 :
Fluchtpunkt Hameln – die Irrfahrt des Schreckens hat ein Ende
Von Ulrich Behmann
Hameln. Die Gashis haben es geschafft: 23 Tage waren sie unterwegs. Sie haben dem Tod mehr als einmal ins Auge geschaut und die Hölle von Blace überlebt. Noch können es die Flüchtlinge aus dem Kosovo nicht so recht glauben, dass sie wirklich in Sicherheit sind.
Noch zucken die Kinder zusammen, wenn sie Menschen in Uniform begegnen. Sogar Hamelner DRK-Sanitäter lassen schreckliche Erinnerungen an mordende Polizisten im Kosovo wachwerden. Gestern, 1.15 Uhr: Auf Gleis 6 fährt der Stadtexpreß 16500 ein. Im letzten Waggon sitzen zehn Heimatvertriebene – der jüngste zwei, der älteste 62.
Die Verzweifelten werden schon sehnsüchtig von Familienmitgliedern, die seit sieben Jahren in Hameln leben, erwartet. Als sich die Türen öffnen, fließen Tränen der Freude. Die Gashis umarmen einander. Still sind sie, kaum ein Wort kommt über ihre Lippen. Die DRK-Helfer Birgit Träber, Christian Priesmeier, Maik Thomas, Daniel Plaul und Björn Kirsch, die den Flüchtlingen heißen Tee und Kaffee reichen wollen, irritieren sie. "Sind das Paramilitärs? Was werden sie mit uns machen?", fragte sich Familienoberhaupt Hajrullah Gashi beim Anblick der Uniformierten.
25. März: Vertreibung in Pristina. Hafize (35), Ibrahim (34), Florentina (2), Shpresim (7) und Njomza (9) laufen um ihr Leben. Mit Panzern sind maskierte Polizisten in Häuser ihres Stadtteils gefahren. Ibrahim erinnert sich: "Polizisten befahlen einem alten Mann: 'Geh!' Er sagte: 'Hier bin ich geboren, hier gehe ich nicht weg.' Da hat ihn ein Polizist erschossen."
Njomza und ich wurden Augenzeugen des Mordes. Meine Tochter hat gezittert und geweint, ist traumatisiert.“ 26. März: In einem Häuserblock sitzt die Familie zusammen in der Wohnung der Eltern. "Um 11.30 Uhr hörten wir eine Stimme: 'Haut ab! Ihr habt fünf Minuten!' Vor dem Haus standen zwei Männer. 60 bis 70 Jahre waren sie wohl alt. Sie wollten nicht gehen. Mit automatischen Waffen hat man sie getötet“, sagt Ibrahim Gashi.
Mit drei Autos machen sich die Zweiundzwanzig auf den Weg in Richtung Mazedonien. „Wer zurückkehrt, weiß, was ihn erwartet“, droht ein Maskierter. 20 Kilometer vor der Grenze geht nichts mehr – überall Vertriebene. 26. bis 28. März: Die Gashis stehen im Flüchtlingsstau. Sie teilen ihr Brot, das sie von daheim mitgenommen haben, holen Wasser aus verlassenen Häusern. Serbische Polizisten verbreiten Angst und Schrecken: Mit Gewehrkolben schlagen sie Autoscheiben ein – nur so zum Spaß. 28. März: Auf dem riesigen Parkplatz einer Zementfabrik müssen alle Flüchtlinge ihre Autos und Traktoren abstellen. Es gibt nur eine Wasserleitung.
Stundenlang stehen Mutter Bahtije (57) und Njomza (9) für einen Schluck an. Dann werden sie von Polizisten verscheucht. Agim Gashi (28) sagt: "Ich sah, wie sie einen alten Mann brutal mit Füßen traten." 29. März: 20.000 Menschen warten auf Ausreise. Es gibt keine Toiletten. Der Parkplatz ist voll mit Kot und Urin. Eine alte Frau stirbt auf einem Anhänger, auf dem 25 Menschen kauern. Lumnije (20) hat panische Angst vor Vergewaltigung, Hafize (35) bekommt Herzschmerzen. Ein Arzt wir ihr verweigert. 1. April: Die Flüchtlinge müssen ihre Autos stehenlassen, dürfen zu Fuß ins Niemandsland.
Es ist die Hölle: Bis zum 4. April hausen die Flüchtlinge im Schlamm. Nur Plastikplanen, Tüten und Kartons schützen vor Regen. 4. April: Es geht weiter. Mit Bussen werden die Flüchtlinge in die Nähe von Skopje in Mazedonien gebracht und in einer Zeltstadt von britischen Soldaten aus Hameln versorgt. 7. April: Eine Bundeswehr-Maschine fliegt die 22 Gashis nach Nürnberg. Später wird die Familie auf Heime in München und Bayerisch Eisenstein verteilt. 15. April: 19.15 Uhr. In München steigen zehn Gashis in den Zug. Ihr sehnlichster Wunsch: Sie wollen ihre Verwandten in Hameln wiedersehen.
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