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Schaumburger Zeitung , 13.05.2000 :

Schleuser, Schmuggler und Moskitos

"Im Osten nichts Neues", meldet Manfred Köberle. Der 29-jährige Bundesgrenzschutz-Hauptmeister ist einer von mehreren Hamelnern, die die Grüne Grenze zwischen Deutschland und Polen überwachen – mit Nachtsichtgeräten und Wärmebildkameras, zu Lande, zu Wasser und aus der Luft. Auch wenn die Fallzahlen zurückgehen: Über die Oder werden nach wie vor Tausende von Menschen, jede Menge Zigaretten und Rauschgift geschmuggelt. Die Dewezet ging mit einem BGS-Team auf Patrouille, war bei der Fahndung nach großen und kleinen Kriminellen dabei.

Von Ulrich Behmann und Lilly zu Schaumburg-Lippe

Hameln/Frankfurt (Oder). Wenn die Sonne untergeht, dann schlägt ihre Stunde, dann gehen sie auf Jagd: Milliarden von Mücken schwärmen aus und suchen sich in der Abenddämmerung Opfer – Moskitoplage im Osten Deutschlands. Aber es ist nicht nur die Stunde der fliegenden Blutsauger. Drüben, auf der polnischen Seite des bis zu 60 Meter breiten reißenden Flusses, warten im Dickicht Menschen- und Zigarettenschmuggler auf eine Chance, die Grenze ungesehen zu überqueren. Schwimmend oder mit einem Schlauchboot. Und im brandenburgischen Oderbruch sitzen Frauen und Männer des Bundesgrenzschutz-Abschnitts "Grüne Grenze" an, warten auf Schleuser und Flüchtlinge, kleine und große riminelle. Tag für Tag. Nacht für Nacht. Rund um die Uhr.

21.30 Uhr, BGS-Inspektion Frankfurt (Oder), Uferstraße 3, das Hauptquartier von 550 Grenzschützern: In einer ehemaligen Armee-Kaserne bereitet sich die Nachtschicht auf eine neunstündige Patrouille vor. Doch bevor die olivgrünen VW Transporter und Range Rover vom Hof durch das von einer Kamera überwachte Stahltor rollen dürfen, verteilt Polizeioberkommissar Manfred Böttcher (60), Diensthabender Gruppenleiter, die Streifenbefehle. Polizeihauptmeister Michael Köberle (29) aus Hameln und Polizeimeister Sven Pirtschak (29) aus Neustrelitz müssen heute Nacht den Einsatzraum 08-9 überwachen.

08-9, das ist der Zahlen-Code für die Grüne Grenze zwischen Vogelsang im Süden und Frankfurt/Oder im Norden. 31,042 Kilometer ist der von der Inspektion Frankfurt kontrollierte Streifen lang und bis zu 30 Kilometer breit. Wer hier auffällt, wird überprüft. Wer hier nicht hergehört, wird festgenommen oder verhaftet, abgeschoben oder zurückgeschoben, wie es im Amtsdeutsch heißt.

In dem von grellen Neonlampen erhellten Aufenthaltsraum, in dem Kreuzspinnen auf Mückenjagd gehen und ein paar alte Holzschränke, ein langer Tisch mit 16 Stühlen nicht die Spur von Gemütlichkeit vermitteln, wird frisch aufgebrühter Kaffee getrunken. Michael Köberle leert noch schnell seinen Henkelmann und reibt sich danach mit Autan ein. Das giftige Anti-Mücken-Spray gehört inzwischen zur inoffiziellen Bewaffnung. Am Gürtel des Hamelners hängen eine deutsche Pistole, Marke Walther P 6, eine US-amerikanische Mag-Lite-Taschenlampe, Handfesseln und das private Handy. Kollege Sven Pirtschak schnappt sich das Handfunkgerät und den Restlicht-Bildverstärker, den alle hier nur BIV nennen. Los geht’s. Pirtschak startet den VW-Transporter, Köberle funkt die Zentrale an: "Hier Flieder 47-11. Maßnahme Sesam" – der Funkcode für "Bitte Tor öffnen!"

47-11 ist auf Streifenfahrt in Frankfurt (Oder). Die Grenzschützer halten Ausschau nach dunklen Gestalten. "Wir dürfen im Grenzgebiet jeden überprüfen", erklärt Köberle. "Verdachtsunabhängige Kontrolle heißt das offiziell. Gesichtskontrolle sagen wir dazu." Am Grenzbahnhof stellen die Beamten ihren Streifenwagen ab, gehen im fahlen Licht des Mondes zu Fuß weiter in Richtung Eisenbahnbrücke. Am schwarz-rot-gelb-gestreiften Grenzpunkt 082 bleiben die Fahnder plötzlich stehen. Pirtschak hat etwas entdeckt, zeigt in Richtung Oder. "Manni, ist das dort ein Angler?" Köberle schaut durch das Nachtsichtgerät. "Ja, ich denke schon", antwortet der Hauptmeister.

Im dichten Unterholz schreckt ein Reh, läuft vor einem aus Polen herannahenden Zug davon. Im Vorbeifahren werden die Waggons kontrolliert – auf illegale Einwanderer. Pirtschak leuchtet mit der Mag-Lite unter die Güterwagen, Köberle nimmt sich die Ladeflächen mit dem Restlichtverstärker vor. Fehlanzeige. "Noch vor drei Jahren sah das hier anders aus", erzählt der Vater einer 11-jährigen Tochter. "Da waren sie überall die Illegalen. Eingegraben hatten sie sich in Kohle, unter den Waggons hingen sie. Und manchmal blickten wir in 50 Augenpaare, wenn wir einen Frachtwagen kontrolliert haben."

Die Statistik spricht für sich: 1992/93 wurden an der Oder-Neiße-Grenze zwischen 17.000 und 22.000 illegale Einwanderer registriert. Im vergangenen Jahr waren es gerade mal 2.796. Weil der polnische Grenzschutz seine Außengrenzen zu Litauen, Weißrussland, Russland und der Ukraine gewissenhaft überwacht, schlüpfen nicht mehr ganz so viele Wirtschaftsflüchtlinge und Kriminelle durch das fürs menschliche Auge unsichtbare Infrarot-Netz. Polen will Mitglied der Europäischen Union werden. Das merken auch die deutschen Grenzschützer. Immer öfter heißt es: Im Osten nichts Neues. Die Zahl der an allen deutschen Grenzen registrierten unerlaubten Einreisen geht zurück: 37.789 waren es im vergangenen Jahr, sechs Prozent weniger als 1998. An der deutsch-polnischen EU-Außengrenze sank die Fallzahl um fast die Hälfte – von 4.847 auf 2.796.

Bundesinnenminister Otto Schily nannte am 20. März einen von mehreren Gründen, warum das so ist: "Das im Jahr 1998 begonnene Modellprojekt der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Form von gemischt besetzten Streifen hat sich uneingeschränkt bewährt."

Auf dem Rückmarsch zum Wagen sind Köberle und Pirtschak in Gedanken bei einer toten Kollegin. Sie kam 1997 unweit der Oderbrücke ums Leben. "Bei der Festnahme von Rumänen wurde sie von einem Güterzug erfasst", erzählt der Grenzschützer aus Hameln. Der Tod an der deutschen Ostgrenze – er ist nicht alltäglich, und doch kommen die Bundespolizisten mit ihm Jahr für Jahr in Berührung: "Die Oder ist der wohl am schnellsten fließende Fluss Europas. Die Strömung wird unterschätzt. Immer mal wieder werden Leichen ans Ufer getrieben."

Und die Schleuser sind gewaltbereiter geworden: "Erst Ende Januar ist ein Kollege bei einer Fahrzeugkontrolle auf der A 12 aus einem vorbeifahrenden Auto heraus angeschossen worden", sagt Manfred Köberle. Hat der Familienvater Angst? "Nein, eigentlich nicht. Nur Heimweh nach Hameln."

Flieder 47-11 setzt sich wieder in Bewegung. Meister Pirtschak steuert die Grüne Minna auf dem Schweineweg über Stock und Stein in Richtung Oderauen. Nebel steigt auf. Fast sehen die Wiesen am Waldrand im silbrigen Mondlicht aus wie Seen. Die Männer wollen die Kollegen besuchen, die sich mit ihrem Wärmebild-Bulli 1.000 Meter vom Autobahn-Grenzübergang postiert haben. Über Funk muss Köberle nach der Position des mobilen Spähpostens fragen, so unsichtbar haben die Beobachter ihr in Tarnfarbe lackiertes Fahrzeug zwischen Büschen und Bäumen in Stellung gebracht. Ohne Licht versuchen Pirtschak und Köberle Schlag- und Schlammlöchern auszuweichen – kein einfaches Unterfangen. Als Manfred Köberle die Schiebetür des Infrarot-Kamerawagens öffnet, bittet Norbert Goll (46): "Schnell wieder zumachen! Die Viecher kommen sonst rein."

Wärmebild-Spezialist Goll sitzt zusammen mit einem Kollegen im Innern des stickigen Bullis, kämpft gegen aggressive Stechmücken und starrt auf einen Monitor. "Alles, was weiß abgebildet ist, stellt eine Wärmequelle dar", sagt Goll. Auf dem Schwarzweiß-Schirm sind deutlich die Umrisse eines Rehs zu erkennen. Von Schleusern, Schmugglern und Flüchtlingen keine Spur. "Muss an den Moskitos liegen", sagt Köberle und setzt die Streife fort.

Am Grenzübergang Autobahn, dessen Umgebung Goll seit Stunden im Visier hat, darf sich der Zoll über einen Fahndungserfolg freuen. Zollobersekretär Frank Harmann hatte den richtigen Riecher als er gegen 2 Uhr einen litauischen VW Vento aus der Schlange der Einreisewilligen winkte und im doppelten Boden des Kofferraums einen mittelgroßen Fund machte: 16.000 Glimmstengel der Marke West, geschmuggelt aus dem Osten. Der Ertappte, ein großer Blonder in T-Shirt und Bermudas, spricht kein Wort. Deutsch scheint er zu verstehen, denn er kommt den Aufforderungen des Zollbeamten ohne Wenn und Aber nach. Der Litauer muss 2.400 Mark Tabaksteuer nachzahlen und eine Sicherheitsleistung in Höhe von 1.000 Mark hinterlegen – "für die zu erwartende Strafe", klärt Harmann auf. Bevor der Litauer zurückgeschickt wird, ziert ein Stempel der besonderen Art seinen Pass. Er weist ihn bei der nächsten Einreise als Schmuggler aus.

Was die Grenzschützer Köberle und Pirtschak noch nicht wissen: Um 0.30 Uhr ist ihren Kollegen am Grenzübergang Stadtbrücke ein dicker Fisch ins Netz gegangen. Der deutsche Autofahrer (27) soll in Kassel eine McDonald's-Filiale überfallen haben. Im Auto des Räubers lag der in Frankfurt/Main gestohlene Führerschein eines Nigerianers. Offenbar wollte sich der Verbrecher ins Ausland absetzen. Der BGS machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Während Köberle und Pirtschak auf Autobahnparkplätzen mit Sperrmüll vollgestopfte Wagen aus Litauen, Polen und Russland kontrollieren, sind ihre Kollegen in Reisezügen und an Bahnhöfen aktiv, vollstrecken Haftbefehle gegen einen Ukrainer und einen Litauer, nehmen vier Russinnen und Polinnen, die sich unerlaubt in der Bundesrepublik aufgehalten haben, fest.

Als der Morgen graut, fahren die Spähposten der Wärmebild-Wagen und -Boote die Kameras ein und holen die Ferngläser raus. Köberle und Pirtschak sehen auf dem Zollhof nach dem Rechten, auf dem sich zu dieser frühen Stunde 590 Lastzüge stauen. Eine ganz normale Nacht geht zu Ende: An der 267,3 Kilometer langen brandenburgisch-polnischen Grenze sind 111 besondere Ereignisse festgestellt und 59 gesuchte Personen vorläufig festgenommen worden. Bei Guben versuchten vier Ausländer ihr Glück, drei Aserbaidschaner wurden gestellt, einer konnte entkommen. Und in Forst wurde ein Deutscher beim Einschleusen einer Ukrainerin geschnappt. Bei Manschnow stellten BGS-Leute über 200.000 Zigaretten sicher – sie lagen in einem Opel Vectra und Omega. Die Schmuggler entkamen.

Der Grenzschützer aus Hameln möchte am liebsten zurück in die Heimat. Im Weserbergland wohnen seine Eltern und fünf Geschwister. Seit 1994 schiebt er nun schon Schichtdienst im fernen Brandenburg an der Grenze zu Polen. Köberle meint: "Eigentlich ist es hier an der Oder ja ganz schön – das Weserbergland ist aber noch viel schöner."


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