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Schaumburger Zeitung , 03.06.2003 :

Glocken nicht zum Streitobjekt machen

Bückeburg (gp). Neben mehr als 2.000 heimatvertriebenen Schlesiern hat der Zweite Weltkrieg auch altehrwürdiges Kulturgut aus deren Heimat nach Bückeburg gespült. Im Turm der katholischen Kirche in Bückeburg hängen die Glocken von zwei ehemals deutsch-schlesischen Gemeinden. Anders als bei den Menschen scheint nicht ganz klar, ob sie für immer hier bleiben dürfen.

Exakt 140 Jahre ist es her, dass erstmals "katholisches Glockengeläut" über Bückeburg erklang. Anlass war die Einweihung der alten, damals an der Herderstraße errichteten und mittlerweile durch einen Neubau ersetzten St. Marien-Kirche. Es war der Beginn einer schicksalhaft anmutenden "Glockengeschichte". Zweimal, während der beiden Weltkriege, wurde das Geläut mit Gewalt zum Schweigen gebracht. Grund: Die beiden jeweils größten Bronzegüsse wurden zu Kanonen verschmolzen. 1917 waren die 285 kg schwere "Ave Maria" und die 125 kg schwere "St. Paulus" an der Reihe, und 25 Jahre später wurden deren mittlerweile neu angeschaffte Nachfolgemodelle abtransportiert. Ein ähnliches Schicksal könnte der St. Marien-Gemeinde noch ein drittes Mal blühen. Das hat kürzlich deren Vorsitzender Johannes Kersting herausgefunden. Nach seinen Recherchen stammen die beiden größten der zur Zeit im Kirchturm hängenden Glocken aus Schlesien. Sie wurden den Bückeburgern 1952 leihweise zur Verfügung gestellt – "bis zum Abschluss eines endgültigen Friedensvertrages", wie es in den Begleitpapieren heißt. Beide Stücke sind guss- und klangtechnische Meisterwerke. Dazu kommt ein unschätzbarer historischer Wert. Die größere war in Gorpe (heute Gorzupia Dolna) zu Hause, einem kleinen Dorf im Kreis Sprottau (Szprotava) in Niederschlesien. Sie ist fast ein halbes Jahrtausend alt und wurde im Jahre 1507, also noch vor der Reformation und vor Beginn des Dreißigjährigen Krieges, gegossen. Das zweite, 216 Kilogramm schwere Exemplar hing über 300 Jahre lang in der Kirche von Großendorf (Dluzyce). Der kleine Ort gehörte und gehört zum ebenfalls in Niederschlesien gelegenen Kreis Wohlau (Wolow). Die Irrfahrt der beiden Glockenveteranen begann, als die NS-Machthaber 1942 eine reichsweite Glocken-Vernichtungsaktion starteten. Der ins Stocken geratene Zweifronten-Krieg hatte zu einer bedrohlichen Materialknappheit geführt. Das brachte die Rüstungsstrategen auf die Idee, die Waffenproduktion durch das Einschmelzen von Kirchenglocken aufrecht zu erhalten. Den meisten Gemeinden ließ man nur die kleine "Betglocke". Zentraler Sammelplatz war Hamburg. Zu der angestrebten Massenverwertung kam es jedoch nicht mehr. Der Schmelzbetrieb im Freihafengelände wurde schon früh von alliierten Bombern zerstört. Für die Bückeburger St.-Marien-Glocken kam der Angriff zu spät. 8.000 andere "überlebten" – darunter auch die Bronzen aus Gorpe und Großendorf.

Sofort nach dem Krieg begann die Rückführung der "Überlebenden". Auch im Schaumburger Land kam es zu freudigen Wiedersehensfeiern. Keine Heimkehr gab es für heil gebliebenen Glocken aus den Gebieten jenseits der Oder-Neiße-Linie. Die polnischen und russischen Besatzer legten auf die Rückführung der Zeugnisse einstigen Deutschtums keinen Wert. Außerdem: Deutsche Kirchengemeinden, die sich darum hätten kümmern können, gab es nicht mehr. Die Folge: Bis in die fünfziger Jahre hinein türmten sich auf dem sogenannten "Glockenfriedhof" im Hamburger Hafen tausende "herrenloser" Ostgebietsglocken.

Dann starteten die westdeutschen Bischöfe eine Art "Ausgleichsaktion". Westkirchen, deren Glocken den Krieg nicht überlebt hatten, wurden mit "Leihglocken" versorgt. Auch die Bückeburger St. Marien-Gemeinde nahm 1952 das Angebot zur Übernahme von "Glockenpatenschaften" dankbar in Anspruch. Für den Neuankauf eigener Stücke fehlte das Geld. Alles, was an Kapital locker gemacht werden konnte, wurde für die Integration der in großer Zahl eintreffenden Flüchtlinge und Heimatvertriebenen gebraucht. Die meisten von ihnen kamen – einem Wink des Schicksals gleich – aus Schlesien. "Wenn man so will, sind die Glocken den damals aus ihrer Heimat vertriebenen Menschen gefolgt", sagt denn auch Johannes Kersting. Er sieht, wie die meisten in der Gemeinde, die zwei zugereisten Glocken "in Bückeburg am richtigen Platz".

An eine Rückgabe an die mittlerweile polnischen Gemeinden denke man zur Zeit nicht. Außerdem sei fraglich, ob die Wiedervereinigung überhaupt als endgültige Friedensregelung anzusehen sei. Noch ist laut Johannes Kersting aber alles offen. "Wir sind von all dem total überrascht", so der Gemeindevorsitzende. "Wir überlegen noch, wie wir mit der neuen Situation umgehen wollen." In jedem Fall wird es, wenn es nach ihm geht, eine "völkerverbindende und christenwürdige Lösung" geben. Zu einem Streit dürfe es nicht kommen. Als erstes will Johannes Kersting deshalb Kontakt mit den beiden schlesischen Glockenpatenschafts-Dörfern aufnehmen. "Vielleicht entsteht aus der ganzen unseligen Vergangenheit ja noch ein kleines deutsch-polnisches Happy End."


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