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Michael Klarmann , 24.01.2001 :

War der Gutachter "willfähig" oder gar "vorauseilend gehorsam"? / Am Beispiel von Hüseyin Calhans Abschiebung kritisieren Fachärzte die Abschiebepraxis aufgrund attestierter Reisetauglichkeit

Ende Oktober 2000 wurde der Aachener Sprecher des nordrhein-westfälischen Wanderkirchenasyls, Hüseyin Calhan, in die Türkei abgeschoben. Zuvor hatte der Leiter des Gesundheitsamts Paderborn, Dr. Eicker, dem 27-jährigen Kurden die Reisefähigkeit attestiert. Wider besseres Wissen, erklärten im Dezember Fachärzte und Psychiatrieexperten, der Aachener Friedenspreis e.V., die Flüchtlingsbeauftragte im Bistum Aachen, Andrea Genten, sowie weitere Flüchtlingsreferenten.

Infolge eines von Calhans Anwältin gestellten Eilantrags auf Neuprüfung seines Asylantrags aufgrund gesundheitlicher Gründe hatte das Verwaltungsgericht Düsseldorf am 16. Oktober 2000 angeordnet, die Reisetauglichkeit von Hüseyin Calhan, der sich zu dem Zeitpunkt im Hungerstreik befand, sei von einem Facharzt für Psychiatrie festzustellen. Sollte dieser den Abschiebehäftling für reisefähig befinden, sei umgehend die Abschiebung durchzuführen. Als "Arzt mit Psychiatrieerfahrung" hielt die Kammer Dr. Eicker für diese Aufgabe qualifiziert. Der Amtsarzt, zuständige für das größte Abschiebegefängnis Nordrhein-Westfalens im westfälischen Büren, befand den Kurden tauglich für die "Reise", von Seiten des Landesinnenministerium wurde die Abschiebung "vollzogen". Drei fachärztliche Expertisen sprechen Eicker, einem Allgemeinmediziner, allerdings die Kompetenz ab, ein solches Attest auszustellen. So hatte Eicker etwa in seinem lediglich als "Stellungnahme" überschriebenen Gutachten geschrieben: "Schläge ist Herr C. seit seiner Schulzeit gewohnt gewesen, mit denen ist er quasi aufgewachsen. Sein Werdegang und sein Verhalten zeigen, dass er darunter nie nachträglich gelitten hat."

Dr. med. Helga Spranger, Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie sowie für psychotherapeutische Medizin aus Strande bei Kiel, kommt in ihrem Gegengutachten zur Eicker-"Stellungnahme" zu dem Schluss, diese sei "aus fachärztlicher Sicht nicht verwertbar" und müsse "für den fachpsychiatrisch-fachpsychotherapeutischen Bereich abgelehnt werden." Beileibe sei das aber kein Einzelfall in der Abschiebepraxis der Bundesrepublik Deutschland. "Gutachtenaufträge im Rahmen der Amtshilfe" schlössen schon die Anordnung ein, eine Behörde helfe der anderen. Prinzipiell sei also "die Frage nach Flug- und Reisefähigkeit eines abgelehnten Asylbewerbers eine Farce und eine Verantwortungsverschiebung auf Ärzte." Untersucht würde nur, ob für die Zeit der Abschiebung mit gesundheitlichen Komplikationen zu rechnen sei. Ausgeblendet werde dabei, was danach passiert, aber gerade in Zeiten moderner Medizintechnik, etwa wie bei Krankenrücktransporten aus dem Urlaub, sei "reisefähig" ein schwammiger Begriff. Im Fall Calhan habe zudem der Amtsarzt "sich über sich selbst und über sein ärztliches Wissen geirrt," so die Fachärztin.

Auch Thomas Auchter, Psychologischer Psychotherapeut in Aachen, äußerte Kritik an der Arbeitsweise von Eicker. Der Lehrtherapeut am Ausbildungsinstitut der Psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft Köln-Düsseldorf und Autor zahlreicher Fachpublikationen stellte fest, "Herr Dr. med. Peter Eicker besitzt keinerlei ausbildungsmäßig erworbene psychiatrische oder psychotherapeutische Fachqualifikation." Zuvor schon hatte der Leiter der Psychiatrischen Tagesklinik in Herford, Wolf Müller, festgestellt, ein Justiziar der Ärztekammer Westfalen-Lippe habe ihm auf Anfrage nicht bestätigen können, dass Dr. Eicker bei der Kammer als "Arzt mit Psychiatrieerfahrung" eingetragen sei. Müller betrachtet Eicker für die vom Gericht angeordnete Untersuchung an Calhan als "inkompetent" und stuft eine Passage des Gutachtens sogar als "völlig irrig" ein - sie zeuge "von Nichtwissen" über die vorliegende und zu untersuchende posttraumatische Erkrankung Calhans. Völlig unverständlich für Müller ebenso, warum gerade der Leiter des Gesundheitsamtes Paderborn die Suizidgefährdung und Posttraumatisierung des Abschiebehäftlings untersuchte, er aber nicht den in seiner Behörde angestellten Facharzt für Psychiatrie bei der Untersuchung hinzuzog. Das kritisiert auch Auchter, der zudem bemängelt, Eicker sei sogar in seinem Attest so weit gegangen, Gutachten verschiedener angesehener Psychologen als "nicht objektiv" einzustufen, ein "unbegründetes Werturteil." Zudem habe der Allgemeinmediziner Eicker aus einem für ihn anscheinend als "diagnostisches Handbuch" eingestuftes Buch "selektiv" zitiert. Das Handbuch aber, "in Deutschland zur EDV-mäßigen Abrechnung kassenärtzlicher Leistungen" eingesetzt, sei für den Zweck der von Eicker getätigten Untersuchung ungeeignet. Zu allem Überfluss seien "Behauptungen von Dr. Eicker sachlich falsch," Aussagen "diffamierend" und "nicht fachlich objektiv wertend." Einiges an dieser Vorgehensweise von Eicker, so Auchter weiter, sei "vergleichbar" mit einer "Medizin ohne Menschlichkeit" - Titel eines Buches, welches sich mit Ärzten im Dritten Reich kritisch auseinander setzt.

Dieser Kritik schlossen sich Ende Dezember Psychotherapeuten und -analytiker aus Aachen an. Nach ihrer Auffassung hat Eicker die "ethischen Richtlinien seines Berufsstandes verletzt." Mit "vorauseilendem Gehorsam" habe er die "für das Gutachten qualifizierten psychiatrischen Fachkollegen" übergangen und Calhans Erkrankung mit "unzutreffenden Begründungen" geleugnet. Der "Verdacht eines Gefälligkeitsgutachten für eine Behörde" dränge sich auf, schrieben sie in einer öffentlichen Stellungnahme. Leider sei der Fall Calhan/Eicker aber kein Einzelvorkommnis. "Insbesondere von beamteten Kollegen" sei hier eine Besorgnis erregende Tendenz zu beobachten, so Dr. med. Hans Wolfgang Gierlichs, der Initiator der Aachener Gruppe*. Bedenklich finden er und 20 weitere Psychotherapeuten und renommierte Trauma-Spezialisten die "Zunahme ärztlicher Gutachten, in denen Abschiebungen von Personen befürwortet werden," denen "zuvor unabhängig fachlich qualifizierte Vollgutachten" Gefährdung und Traumatisierung attestiert haben. "Es erscheint gerade in Deutschland wichtig," fordern sie, "daran zu erinnern, dass Ärzte zu Unabhängigkeit und Sorgfalt verpflichtet sind und sich dem Trend, politischer Wünsche entgegenzukommen, frühzeitig und eindeutig entziehen müssen."

Mit einer Beschwerde, der Hilfe eines Anwalts und der Forderung nach einem Disziplinarverfahren gegen Dr. Eicker wendeten sich Ende Dezember der Verein Aachener Friedenspreis und Flüchtlingsinitiativen an die Ärztekammer Westfalen-Lippe. Auch das Verwaltungsgericht in Düsseldorf wurde aufgefordert, unter Berücksichtigung dieser ärztlichen Erkenntnisse die Rechtsgültigkeit von Calhans Abschiebung zu überprüfen. "Ziel ist die Rückführung von Herrn Calhan in die Bundesrepublik Deutschland und letztendlich eine humanere Gestaltung des Asylrechts" in der Bundesrepublik, so Gerhard Diefenbach, Vorsitzender des Aachener Friedenspreis e.V. Das Wanderkirchenasyl war '99 mit dem Preis ausgezeichnet worden. Nach Recherchen der Tageszeitungen Neue Westfälische und taz hat auch die nordrhein-westfälische Landtagsabgeordnete und stellvertretende Vorsitzende des Petitionsausschuss, Brigitte Herrmann (Bündnisgrüne), Mitte Dezember die Petitionsverwaltung des Landtages um Prüfung gebeten, warum nicht der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie des Gesundheitsamt in Paderborn die Untersuchung an Calhan vorgenommen hat. Auch sie interessiert, über welche "berufständisch anerkannte fachärztliche Ausbildung" Eicker verfügt und ob Informationen von Flüchtlingsbetreuern stimmen, dass Dr. Eicker noch nie Reiseunfähigkeit attestierte aufgrund von posttraumatischen Belastungssyndromen und Suizidgefährdung.

Interessierte Ärzte können unter der Fax-Nummer 02408 - 5589 Kontakt zu den Initiatoren der Kampagne aufnehmen. In Berlin können der Arbeitskreis Asyl der IPPNW (Fax-Nummer 030 - 6933166) und das Behandlungszentrum für Folteropfer unter der Fax-Nummer (030 - 30614371) kontaktiert werden.


klarmann@bigfoot.de

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