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Bielefelder Tageblatt (OH) / Neue Westfälische , 22.11.2003 :

"Bieberstein benutzt böswillige Klischees" / Klaus-Peter Friedrich: Die Rezension

Johannes Rogalla von Bieberstein verfolgt eine von vornherein feststehende These, für die er in einer umfangreichen seriösen historischen Forschungs- sowie der Erinnerungsliteratur Belege gesammelt hat. Dabei zieht er es vor, nach plakativen Aussagen zu suchen, denen fast stets der Zusammenhang und mitunter Eindeutigkeit fehlt. Wie im Falle der Äußerung Maxime Steinbergs, der feststellt: "die 'jüdisch-bolschewistische Fährte' (ist) essentiell für das Verständnis des Völkermords an den Juden" (253). Ob Steinberg hier tatsächlich den Ansatz R.v.B.s gutheißt oder ob es ihm vielmehr um den missbräuchlichen Umgang mit der 'jüdisch-bolschewistische(n) Fährte' geht, bleibt somit unklar. Den mit großem Sammelfleiß angelegten Zettelkasten arbeitet R.v.B. Seite für Seite, und mit zahlreichen Wiederholungen, ab.
Der sozial- und kulturhistorische Zusammenhang bleibt weitgehend unausgeführt: der Übergang der jüdischen Gemeinschaften Osteuropas in die Moderne und der schwierige Assimilationsprozess immer größerer Teile an die sich herausbildenden nationalen Gesellschaften. Dieser beinhaltete bei vielen auch einen Wunsch nach Beteiligung an den Dingen der Gesellschaft.

Währenddessen ging die auf die vorherrschende Ethnie bezogene Nationsbildung mit der Abgrenzung von den als fremd bzw. als "Feind im Innern" empfundenen und benachteiligten Juden einher. Aufgrund autoritärer politischer Strukturen und antisemitischer Diskriminierung war in Mittel- und Osteuropa die Mitwirkung in nationalistischen und in konservativen Parteien fast unmöglich. Juden wandten sich daher den Parteien zu, die sie nicht ausgrenzten und sich programmatisch für die völlige Gleichbehandlung ungeachtet der ethnischen Herkunft oder (früherer) religiöser Bindungen aussprachen; vielfach wurden diese dann verboten und in den Untergrund gedrängt.

Der fortwährende Untergrundkampf war wiederum Quelle der Radikalität der ostjüdischen Revolutionäre und Revolutionstheoretiker. - Ohne diesen ganz unverzichtbaren Kontext ist dem uninformierten Leser die Einordnung vieler Befunde des Autors schwer möglich.

Der Leser ist stattdessen beeindruckt von der großen Zahl "jüdischer" Protagonisten/Namen, die der Autor zusammenträgt. Diese kommt dadurch zustande, dass er nicht nur Belege für die Beteiligung von Juden am Bolschewismus berücksichtigt - wie es der Buchtitel verheißt -, sondern indem er sich viele Fälle von jüdischer Mitwirkung an der sozialistischen und der Arbeiterbewegung zunutze macht. Damit schließt R.v.B. Personen ein, die etwa in der SPD oder der SPÖ tätig waren, die beide für die sowjetische Gewaltherrschaft keineswegs verantwortlich gemacht werden können. Aufgrund dieser unzulässigen Vorgehensweise werden zudem jene russischen Sozialisten als manipulierter Beweis einer Affinität zum Bolschewismus herangezogen, die selbst Gegner von Lenins Partei waren und rasch zu Opfern der bolschewistischen Herrschaft wurden (wie die Menschewiki oder die Sozialrevolutionäre)!

Muss der Autor dann doch eingestehen, dass der Sozialismus in Mittel- und Osteuropa gleichfalls durch eine beachtliche Zahl von Nichtjuden repräsentiert wurde, so forscht er nach jüdischen Ehepartner(inne)n (50) oder nimmt Personen gemischter Herkunft wie die Nachkommen Robert Eislers (263) oder einen Zweifelsfall - den im Baltikum geborenen Deutschen Max Lewien (171) - schlicht als "Juden" in Beschlag. Der Autor benutzt hier also das gleiche Verfahren einer suggestiven namentlichen Aufzählung und Aufdeckung von Pseudonymen, das nationalsozialistische Propagandawerke über den "jüdischen Bolschewismus" in den 1930er Jahren angewandt haben (279).

Die Zahl der von R.v.B. entdeckten "jüdischen" Sozialist(innen) sagt noch nichts über deren nationales, ethnisches oder religiöses Selbstempfinden. Um über die Identitätsgefühle Aussagen zu treffen, müsste der Autor eine gründlichere Analyse der Erinnerungsliteratur und der für das politische Engagement relevanten lebensweltlichen Aspekte durchführen.

Der Autor konstruiert seine Geschichtserzählung als manichäistisches Bürgerkriegsszenario, indem sich zwei klar abgrenzbare Gegner gleichsam in einem Duell gegenübergestanden hätten. Der Konflikt wird - was Wunder - vom "revolutionären Marxismus (Bolschewismus)" vom Zaun gebrochen. Daher die Rede von der "Kampfansage … an die bürgerliche und christliche Welt" und die Verharmlosung des Nationalsozialismus zur "Gegenbewegung". Auch hier fehlt der unmittelbare historische Zusammenhang: Der fatale Mentalitätswandel zwischen 1914 und 1918, der durch die Verrohungen des ersten totalen Krieges geprägt war und der den ethnisch definierten nationalen Hass potenzierte, bleibt außer Acht. Seine Nachwirkungen reichten aber weit über den November 1918 hinaus.

Rabiater Antisemitismus war nicht, wie R.v.B. glauben machen will, eine bloße Reaktion auf die Mitwirkung von Juden bzw. Personen jüdischer Herkunft in den revolutionären Ereignissen von 1918/19. Antijüdische Traditionen reichen weiter zurück - in Russland zum vieldiskutierten "Ritualmord"-Prozess gegen den Angeklagten Bejlis 1913 über die gescheiterte Revolution von 1905 in das späte 19. Jahrhundert hinein, in Deutschland und Österreich zumindest bis zur 1848er Revolution. Sie sind gerade in der 1930er Jahren, wie in zahlreichen Beispielen klerikaler Stellungnahmen mittelbar deutlich wird, nicht zuletzt durch einen religiösen Antijudaismus begründet.

Folgt man der scheinbar offenen Fragestellung R.v.B.s, hätte er "die Juden" möglicherweise von seinem Verschwörungsvorwurf gegen die bürgerliche Ordnung entlastende Gesichtspunkte ebenfalls auflisten - und er hätte redlicherweise konkurrierende Interpretationsmöglichkeiten in Betracht ziehen müssen. Schließlich erfahren wir hier, dass etliche der prominenten Kommunisten Atheisten waren oder der protestantischen Konfession angehörten. Da hätte man gerne mehr über den Bekenntnishintergrund auf dem Lebensweg der künftigen Umstürzler erfahren. Zumal R.v.B. uns nun als streitbares Gegenmodell zu Max Webers These vom Ursprung des Kapitalismus aus dem Geist des Protestantismus - die Durchsetzung des Sowjetkommunismus aus dem Geist des Judentums anzubieten scheint.

"Kritik von Juden am Kommunismus wurde 'den' Juden nicht gutgeschrieben", stellt der Autor fest - und macht sich dieses Vorgehen selbst zu eigen. Zur Verengung des Blickwinkels trägt nämlich bei, dass R.v.B. das Wirken jüdischer Gegner des Bolschewiki und des Kommunismus nicht wirklich wahrnimmt. Ihre Namen, einschließlich die zahlreicher Revisionisten, sind bekannt (Karl Popper, Artur Koestler, Manès Sperber, Walter Rathenau Leszek Kolakowski u.v.a.). Aber sie sollen hier nicht genannt werden. Sie als Gegenbeweis ins Spiel zu bringen hieße, sich auf die ethnische bzw. rassistische Argumentationsebene des Autors hinab zu begeben - also in der jeweiligen Familiengeschichte der Kritiker zu kramen, um Anhaltspunkte für das Aufkleben eines jüdischen Etiketts zu gewinnen. Indessen wäre die Frage nach dem "jüdischen" Antibolschewismus kaum sinnvoller als diejenige R.v.B.s.

Das eigentliche Problem liegt in der Wirkung von böswilligen Klischees, welche die Gegner der radikalen Linken aufbrachten, um die Revolutionäre zu diskreditieren. Denn was war jüdisch an den von R.v.B. herausgegriffenen Bolschewiki: Kindheit und Sozialisation in der jüdischen Religion, ethnische Herkunft aus einer diskriminierten Minderheitsgemeinschaft und der noch nicht an die Mehrheitsgesellschaft akkulturierte ursprüngliche, später oft abgelegte Geburtsname.

Als wichtigsten Beweggrund für die "'antisemitische Besessenheit' Hitlers" will der Autor den "als eine Art Krankheit begriffenen 'Rassismus'" zum Schluss durch die gewissermaßen nachvollziehbare Angst vor dem "jüdischen" Bolschewismus ersetzen (285). R.v.B. glaubt, "die jüdische Verstrickung in den Kommunismus und Bolschewismus" (285) und die gerade Linie, die von den Verbrechen der Bolschewiki zur Reaktion des Vernichtungsantisemitismus führte (274), hinreichend dargelegt zu haben. Er spricht "die Juden" schließlich von einer "erbliche(n) Kollektivschuld" frei. Im Gegenzug bittet er sich aber aus, auch den Deutschen dürfe "nicht über Generationen 'die Last von Auschwitz' aufgebürdet werden. Seine Beschäftigung mit dem "jüdischen" Bolschewismus steht also in enger Verbindung zur Forderung nach einem Schlussstrich unter die dunklen Aspekte der nationalen Geschichte. Damit ist dann aller Aufrechnung Genüge getan.

Die politische Affäre um den Bundestagsabgeordneten Hohmann ist im heutigen Europa kein Einzelfall. Sie erinnert in mancher Beziehung an die polnische Auseinandersetzung um Äußerungen des Danziger Pfarrers Henryk Jankowski. Dieser hatte aus Protest gegen das Töten ungeborenen Lebens die Parteien, die für eine liberalere Handhabung der Schwangerschaftsunterbrechung eintraten, mit verbrecherischen Organisationen wie NSDAP, SS und NKWD gleichgestellt. In Anwesenheit des damaligen Staatsoberhaupts Lech Walesa sagte Jankowski dann während einer Predigt am 11. Juni 1995, den Davidstern habe er in diesem Zusammenhang nur deswegen außer Acht gelassen, "weil er in das Symbol von Hakenkreuz und Hammer und Sichel eingeschrieben ist". Die Umschlagillustration des Buches von R.v.B., auf der Hammer und Sichel in der Mitte eines großen Davidsterns platziert sind, deutet darauf hin, dass die Herausgeber sich von dieser Aussage inspirieren ließen.


lok-red.bielefeld@neue-westfaelische.de

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