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WebWecker Bielefeld , 02.11.2005 :

(Bielefeld) "Dem Erdboden gleichmachen"

Die Geschichte von Leningrad ist hier zu Lande nahe zu unbekannt. Die deutsche Führung hatte nach dem Überfall auf die Sowjetunion vor, die über drei Millionen Einwohner verhungern zu lassen zu lassen. Karl Mosh besuchte im heutigen St. Petersburg einen Ort der nicht in die aktuell in der BRD beliebten Opfermythen passt.

Obwohl St. Petersburg eine riesige Stadt ist, findet man den Piskarowskoje-Friedhof sehr schnell. Jeder Mensch kennt ihn. Zur Sowjetzeit, genauso wie heute, haben die meisten während ihrer Schulzeit den Friedhof mit der Klasse besucht. Reisegruppen aus dem Ausland kommen hier her und jedes Jahr gibt es Gedenkveranstaltungen.

Der Friedhof ist eine Gedenkstätte für die Opfer der Blockade von Leningrad. Zwischen September 1941 und dem 27. Januar 1944 belagerte die Wehrmacht mit Hilfe der finnischen Verbündeten die Stadt und versuchte sie von jeglicher Versorgung abzuschneiden.

Obwohl es in den ersten Monaten für die deutschen Truppen wahrscheinlich möglich gewesen wäre "die Stadt Lenins" einzunehmen, wurde auf Befehl Hitlers darauf verzichtet. Dokumente belegen, das eine schnelle Eroberung der Stadt nicht gewollt war. Die deutsche Führung hatte keine Interesse Millionen von Gefangen zu verpflegen. Der Teil Russland sollte unter dem Namen "Ingermanland" "germanisiert" werden. Die Stadt und ihre über drei Millionen Einwohner sollten verschwinden.

Am Tag der Eroberung sollten so wenig Menschen am Leben sein wie möglich. Um dieses Ziel zu erreichen wurde die Stadt von der Wehrmacht nicht nur von Nahrung und Brennstoff abgeschnitten sondern auch mit Tausenden Geschossen und Bomben terrorisiert. Um die dramatische Ernährungssituation zu verschlimmern wurden gefälschte Nahrungsmittelkarten über der Stadt abgeworfen.

Unter starken Angriffen wurde über den Ladogaa See die "Straße des Lebens" errichtet. Im Sommer fuhren Schiffe und im Winter Lastwägen und Schlitten über das Eis in die Stadt. Auf diesem Weg wurde die Stadt nicht nur versorgt sondern auch Tausende Menschen evakuiert.

Während der fast 900 Tage dauernden Blockade starben in der Stadt über eine halben Million Menschen. Viele erfroren oder verhungerten. Besonders im ersten Winter 1941/42 gab es wegen der starken Kälte und der wenigen Nahrung viele Tote. Bis zur Befreiung der Stadt kamen eine halbe Million SoldatInnen der Roten Armee ums leben. Fast 500.000 Opfer des deutschen Vernichtungsfeldzugs liegen auf dem Piskarowskoje-Friedhof.

Auf dem Friedhof

Vor dem Gelände weht die russische Fahne auf Halbmast. Der Eingang ist eine Gasse zwischen zwei Pavillons. Sie dienen als Museum. Dann steht man vor einer ewigen Flamme und schaut auf eine Alle hinunter. Längliche Grabhügel reihen sich symmetrisch aneinander. In der Mitte ist ein Weg.

Zwei Rosenbete verlaufen parallel zum anderen Ende des Friedhofs. Es sind rote Rosen. Wenn sie blühen, symbolisieren sie die Ströme von Blut, die, die Bevölkerung während der Blockade vergossen hat. Vor jedem Grabhügel steht ein Stein mit einer oder zwei Jahrzahlen zwischen 1941 und 1944. Zu beiden Seiten des Mittelgangs erstrecken sich Felder mit solchen Hügeln. Jeder Hügel ist ein Massengrab.

Am vom Eingang gegenüberliegend Ende befindet sich Mauer aus Granit. Auf ihr sind mehrere Inschriften und Bilder.

Der Friedhof wurde 1960 während der Breschnew-Ära eröffnet. Zu dieser Zeit war die Mystifizierung der Leningrader Blockade in der staatlichen Geschichtspolitik auf ihrem Höhepunkt.

Die größte Statue auf dem Gelände ist die "Mutter Heimat". Sie passt gut zu dem Bild das damals vom sowjetischen Staat beschworen wurde: "vaterländische Pathosarchitektur".

Seitlich der Alle erstreckt sich der Rest des Friedhofs. Wie in einem Park gibt es Wege, Wiesen und ruhige Ecken mit Bänken. Auf der einen Seite befindet sich der Militärfriedhof und Felder die vielen Grabsteinen bedeckt sind. Hier wachsen Bäume auf den Gräbern. An ihnen sind manchmal alte Fotos angebracht.

In einem abgelegenen Teil des Friedhofs stehen mehrere Säulen. Sie wurden mit Hackenkreuzen besprüht und übermalt.

An den Seiten der Allee stehen Lautsprecher aus denen die 7. Sinfonie von Dimitrij Schostakowitsch gespielt wird. Er fing während der Blockade an sie zu komponieren und wurde dann aus gesundheitlichen Gründen aus der Stadt evakuiert. Im Sommer 1942 konnte die Sinfonie, an deren Ende der Faschismus bezwungen wird, in Leningrad uraufgeführt werden.

Im Museum befinden sich Originaldokumente wie der Befehl der Wehrmachtsführung die Stadt "dem Erdboden gleich zu machen" oder Gegenstände aus der Stadt. Das Notizbuch der 12 jährigen Tanja Savičeva dokumentiert wie ihre Familie stirbt. Am Ende steht: "Jetzt sind alle tot".

Für den Besucher ist es schwer zu realisieren, was der Piskarowskoje-Friedhof ist. Dort liegt unendlich viel Leid begraben – und doch ist er nur ein Fragment des Elends, den das nationalsozialistische Deutschland über die ganze Welt brachte.

Die Absicht der deutschen Führung war es, die Bewohner Leningrads genauso wie die Bewohner Moskaus langsam auszuhungern. Die nationalsozialistischen Ideologie sah mehr Raum gerade im Osten Europas für das deutsche Volk vor. 2003 beklagt die AG Kultur des deutsch-russischen Forums "Petersburger Dialog" in einer öffentlichen Stellungnahme, dass über die Leningrader Blockade "in deutschen Geschichtslehrbüchern kein Wort steht". Der Massenmord an russischen Stadtbewohnern ist hierzulande nahezu unbekannt.

Im vergangenen Jahr ging eine Welle der Trauerveranstaltungen durch das Land. Insbesondere Dresden stand im Mittelpunkt des Gedenkens an die zivilen deutschen Opfer. Aber auch in Bielefeld, Paderborn und Löhne fanden Gedenkveranstaltungen statt. Manchmal, wie beispielsweise in Bielefeld, rückten Redner die Bombardierungen deutscher Städte am Ende des Krieges verdächtig nahe an die Verbrechen des Nationalsozialismus.

Es ist äußerst bedenklich, wie wenig die Verbrechen des Nationalsozialismus bei diesen Debatten interessieren. Viele Deutsche begrüßten damals die Germanisierungspolitik. Sicherlich wären einige freudig Richtung "Ingermanland" gefahren um auf den Trümmern Leningrads zu siedeln.


webwecker@aulbi.de

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