WebWecker Bielefeld ,
26.10.2005 :
(Bielefeld) Strafanzeige gegen Clement
Von Manfred Horn
Die "Bielefelder Montagsaktion – Weg mit Hartz IV" hat am Freitag Strafanzeige gegen den Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit gestellt. Wolfgang Clement stehe im Verdacht, gegen das Grundgesetz verstoßen zu haben, weil er den Schutz der persönlichen Ehre verletzt habe. Auch gebe es einen Verdacht der Volksverhetzung, Beleidigung, übler Nachrede und Verleumdung.
Die Montagsaktion hat sich zu der Strafanzeige entschlossen, weil sie festgestellt habe, dass die "gezielten Entgleisungen des Ministers bei unseren Mit-Bürgern in fast beängstigender Weise auf fruchtbaren Boden fallen". Bundesweit haben inzwischen mehrere Initiativen und Privatpersonen gegen Clement gestellt. Sie richten sich gegen eine Broschüre, die der bald aus dem Amt scheidende Minister zu verantworten hat. Eine Journalistin hatte einen 33-seitigen Report mit dem Titel "Vorrang für die Anständigen – Gegen Missbrauch, 'Abzocke' und Selbstbedienung im Sozialstaat" erstellt. Er wurde vergangene Woche vom Wirtschaftsministerium veröffentlicht. Clement schrieb höchstpersönlich das Vorwort über den Bericht, der die Situation "vom Arbeitsmarkt im Sommer 2005" wiedergeben soll, wie der Untertitel verrät.
Monster-Parasiten
Alg-II-Empfänger werden in dem Report als "Abzocker, Parasiten und Leistungsbetrüger" bezeichnet. Biologen würden für Organismen, "die zeitweise oder dauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen – ihren Wirten – leben", die Bezeichnung Parasiten verwenden. Natürlich sei es völlig unstatthaft, Begriffe aus dem Tierreich auf Menschen zu übertragen, heißt es in dem Report. Die Begründung: Schließlich ist Sozialbetrug nicht durch die Natur bestimmt, sondern vom Willen des Einzelnen gesteuert. Tiere haben keinen Willen, sind Natur, Menschen hingegen schon. Damit ist klar, wer sich schlimmer verhält: Alg-II-Empfänger sind dann so etwas wie Monster-Parasiten. Am Samstag wiederholte Clement den Begriff in der Chemnitzer "Freie Presse": Er könne es nicht zulassen, dass Menschen auf Kosten anderer lebten. "Das nenne ich parasitäres Verhalten."
Der Report nennt Beispiele von Arbeitslosen, die den Staat betrügen. Dabei werden alle Klischees bedient: Der eine Betrüger hat "Urinflecken auf dem Teppich", verstaubte Möbel und herumliegende Essensreste. Der andere, ein Libanese, natürlich einen neuwertigen BMW Cabrio vor der Tür stehen. Überhaupt wohnen nahezu alle geschilderten Alg-II-Empfänger in dem Report in großflächigen Luxuswohnungen und fahren dicke Autos.
Clement indes verteidigt sich – und findet neben Ablehnung auch Zustimmung in der Sache, so beim designierten Arbeitsminister Franz Müntefering, ebenfalls SPD. Ohne den Report beim Namen zu nennen, erklärte Clement bei der Vorstellung des Herbstgutachtens der Bundesregierung, dass die Mehrkosten für die Hartz-IV-Reform seien auch, aber nicht allein, auf Missbrauch zurückzuführen seien. Statt wie erwartet 3,4 Millionen Alg-II-Empfänger gibt es inzwischen 4,9 Millionen.
Zweifelhafte Telefonumfrage
Ursachen für die Kosten von voraussichtlich 26 Milliarden Euro in 2005 – geplant waren 14 Milliarden – sind der nach wie vor schlechte Arbeitsmarkt und die Einstufung vieler ehemaliger Sozialhilfeempfänger als arbeitsfähig. Wer aus Sicht der Ämter mindestens drei Stunden täglich arbeitsfähig ist, fällt unter das Alg-II. Mit keinem Wort ging Clement bisher auf den Report ein. Dem liegt eine Telefonumfrage unter Alg-II-Empfängern zu Grunde. Wer nicht antwortete, wurde gleich als jemand gewertet, der etwas zu verbergen habe. Und dies, obwohl die Teilnahme an der Telefonaktion als freiwillig deklariert wurde.
Angriffe auf angebliche "Schmarotzer" haben zur Zeit Konjunktur. Ein NDR-Beitrag von Rita Knobel-Ulrich, der im August in der ARD ausgestrahlt wurde, versuchte nachzuweisen, dass Alg-II-Empfänger den Tag damit verbringen, die Ämter zu betrügen. Dazu hatte sie ausschließlich Personen vor die Kamera gezerrt, die sich weigerten, Arbeit anzunehmen. Tenor des Films: Wer sich weigert, einen Ein-Euro-Job anzunehmen, ist ein Verbrecher. Wer Unterstützung vom Staat annimmt, ohne sich ohne Wenn und Aber dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen, dem gehört das Geld gestrichen.
Was als Enthüllungsreportage aus Sicht einer "Fallmanagerin" gezeigt wurde, zeigt, wie sich die Wahrnehmungen inzwischen verschoben haben: Nicht nur jemand wie der Ex-Mannesmann Manager Klaus Esser, der beim Ausscheiden aus dem Unternehmen 29 Millionen Euro erhielt – unter anderem 15 Millionen "Erfolgsprämie" für den Verkauf an "Vodafone" – steht im Rampenlicht, sondern auch diejenigen, die gut 300 Euro im Monat Alg-II erhalten. Esser wurde freigesprochen, auch wenn der Bundesgerichtshof sich nun anschickt, das erstinstanzliche Urteil aufzuheben. Ein Alg-II-Empfänger müsste rund 8.000 Jahre lang zu Unrecht Alg-II beziehen, um auf die gleiche Summe zu kommen, die Esser mit einem Federstrich in einer Sekunde erhielt.
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