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WebWecker Bielefeld , 26.10.2005 :

(Bielefeld) Zufallsgenerator bei Asylanhörung

"Trotz Folter kein Asyl?" Dieser Frage gingen am Donnerstag Experten im Rathaus nach. Neben dem Prozedere bei der Anhörung von Flüchtlingen ging es bei der Podiumsdiskussion auch um die Frage, ob Flüchtlinge mit einem Posttraumatischen Belastungssyndrom abgeschoben werden können. Die Vertreter des Staates meinten ja, Fachleute aus der Flüchtlingshilfe sind dagegen.

Von Mario A. Sarcletti

Schon beim Pressegespräch im Vorfeld der Veranstaltung im Ratssaal am vergangenen Donnerstag zeigte sich, dass an diesem Abend sehr unterschiedliche Standpunkte aufeinander prallen würden. Auf der einen Seite kritisierte Bernd Mesovic von Pro Asyl, dass die Anerkennungsquote von Asylbewerbern einen historischen Tiefststand erreicht habe. Da zudem die Zahl der Asylanträge aufgrund der Abschottungspolitik Europas stark zurückgegangen sind, beschäftigten sich die Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zunehmend damit, Asylbescheide zu widerrufen. 3.000 Anerkennungen standen im vergangenen Jahr 15.000 Widerrufsverfahren gegenüber, betroffen hiervon sind unter anderem Flüchtlinge aus dem Irak oder Afghanistan.

Die andere Seite vertrat Jörg List, Beauftragter für Zuwanderung und Integration der Bezirksregierung in Detmold. Er beaufsichtigt die Ausländerbehörden im Regierungsbezirk. "Die wenigsten kommen deshalb hierher, weil sie politisch verfolgt sind", stellte List fest. Die von Flüchtlingsinitiativen kritisierten Kettenduldungen beträfen Migranten, die ihre Identität verschleierten, behauptete List. Allerdings sind auch Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien, etwa aus dem Kosovo von ihnen betroffen. Sie erhalten nur Abschiebeschutz für drei bis sechs Monate, leben deshalb in ständiger Angst vor Abschiebung.

Zu Beginn der erstaunlich gut besuchten Podiumsdiskussion, knapp einhundert Interessierte waren der Einladung gefolgt, führte Moderatorin Andrea Genten vom nordrhein-westfälischen Flüchtlingsrat in das Thema ein. "In über 150 Ländern wird gefoltert, auch in Ländern die sich als demokratisch verstehen", erklärte Genten. Ächtung der Folter müsse auch heißen, die Opfer zu schützen. "Sie werden aber durch unser Asylrecht nicht geschützt, meist erhalten sie nur Abschiebeschutz", kritisierte sie. Das bedeute Kettenduldung und die spätere Abschiebung in Folterländer.

Dem widersprach Joachim Köhn, neuer Leiter der Bielefelder Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BaMFl). "Der Nachweis der Folter führt zwingend zur Anerkennung", behauptete er. Später musste er jedoch einräumen, dass dies im Falle der Türkei nicht ganz richtig sei. "Wegen der Demokratisierung dort ist eine Wiederholung der Folter nicht zu erwarten", erläuterte Köhn. Andrea Genten wies darauf hin, dass die Behörden Folter häufig als Belästigung werteten. "Eine gewisse Intensität muss schon sein", beschrieb Joachim Köhn daraufhin den Bewertungsmaßstab seiner Behörde. Exzesse einzelner Beamter im Herkunftsland würden noch nicht als Folter gewertet, die müsse systematisch sein.

Die Psychiaterin Angelika Claußen, beschrieb den Fall eines Folteropfers, dem das Bundesamt die Torturen nicht glauben wollte. Die 23-jährige aus der Türkei ist Patientin in Claußens Praxis, nachdem sie 2002 aus ihrer Heimat geflohen war. Zuvor war sie als Anhängerin der kurdischen Hadep-Partei mehrfach verhaftet, gefoltert und vergewaltigt worden. Bei der Erstbefragung durch das Bundesamt habe sie von der Folter berichtet, die Vergewaltigung allerdings nur angedeutet. Nachfragen von Seiten des Beamten habe es kaum gegeben. Schließlich sei die junge Frau als nicht glaubwürdig bewertet worden, der Asylantrag wurde abgelehnt.

"Danach war sie am Boden zerstört", berichtet Angelika Claußen. Die Therapie sei erfolglos gewesen. "Sie bekam ja immer wieder Post, in der ihr gesagt wurde, dass sie nicht glaubwürdig sei", nennt Claußen einen Grund dafür. Nach einem Gutachten und einem Gerichtsverfahren wurde die Kurdin schließlich doch anerkannt. "Sie hat eine schwere Posttraumatische Belastungsstörung", beschrieb Claußen den Gesundheitszustand der Frau. Sie sei sehr misstrauisch, habe anfangs in jedem dunkelhaarigen Mann einen Folterer gesehen.

Joachim Köhn räumte ein, dass der Mitarbeiter des Bundesamtes sich nicht so verhalten habe, wie dies eine Dienstanweisung vorschreibe. "Bei einer Folter- oder Vergewaltigungsandeutung muss die Anhörung abgebrochen und eine Spezialistin und eine Dolmetscherin geholt werden", erläuterte er. Es gebe für diese Fälle speziell geschulte sonderbeauftragte Einzelentscheider. In seiner vorherigen Dienststelle in Düsseldorf sei die Entscheidung über den Asylantrag in solchen Fällen zurückgestellt und die Flüchtlinge an ein psychosoziales Zentrum zur Behandlung verwiesen worden. Köhn erklärte aber auch, dass auch der Einsatz der sonderbeauftragten Einzelentscheider nicht garantiere, dass diese die Tragweite des Falles erkennen.

Gedächtnisstörungen bei Folteropfern

Angelika Claußen erläuterte, warum es für Folteropfer schwierig sei, ihre Erlebnisse zu schildern. Sie hätten oft Gedächtnisstörungen. "Das Gehirn ist gar nicht in der Lage, die Geschehnisse als Ganzes aufzunehmen, verschiedene Sinneseindrücke werden an unterschiedlichen Stellen im Gehirn gespeichert", führte die Psychiaterin aus. Diese Sinneseindrücke kämen später immer wieder. "Wenn jetzt zum Beispiel der Folterer stark nach Schweiß gerochen hat, wird später die Folterszene bei diesem Geruch wiederkommen", sagte Claußen.

Für Bernd Mesovic ist der Fall der jungen Kurdin kein Einzelfall. "Ob die Gesprächsführung stimmt, ist weniger wichtig, als dass das Verfahren systematisch sauber ist und die Anerkennungsquote eingehalten wird", warf er dem Bundesamt vor. Ein Problem sei auch die Qualifikation der Mitarbeiter. "Zur Hochzeit der Asylbewerberzahlen wurde in großem Stil Personal eingekauft", so Mesovic. Es fehle die Qualitätskontrolle bei den Anhörungen. "Wenn ich dann höre: Die beste Qualitätskontrolle sind die Gerichte, dann werde ich bitter", sagte er.

Eine aktuelle Studie zeigt, dass auch geschulte Mitarbeiter des Bundesamtes tatsächlich mit ihrer Einschätzung oft daneben liegen. Nach der Studie der Universität Konstanz leiden 40 Prozent der Asylbewerber an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), die Anerkennungsquote von Asylbewerbern beträgt hingegen nur 3,3 Prozent. Die Kenntnisse in psychologischer Gesprächsführung seien nicht ausreichend, zudem verfügten sie über ein mangelndes klinisches Verständnis. "Da hätte man auch einen Zufallsgenerator hinsetzen können", kommentiert Bernd Mesovic das Ergebnis der Studie.

Angelika Claußen beschrieb die Symptome einer PTBS: Zu ihnen gehören Übererregung, Schlaflosigkeit, Konzentrationsstörungen und vor allem das unwillkürliche Wiedererleben des Traumas. Traumatisierung, "ein Begriff der leider inflationär verwendet wird", so Claußen, meine in diesem Fall die Bedrohung von Leib und Leben von sich selbst oder nahen Angehörigen. "Es ist besonders schlimm, wenn sie von Menschen ausgeht", sagte Claußen. So liege die Chance eine PTBS zu erleiden durch Folter bei fünfzig, durch einen Verkehrsunfall bei fünf Prozent. Die Chance werde gemindert, wenn dem Opfer Ruhe und Sicherheit gegeben werde. Das Gegenteil passiert nach der Flucht in die Bundesrepublik, die Anhörung durch Beamte und die drohende Abschiebung verschlimmern den Gesundheitszustand. "Das Schlimmste für die Opfer ist Drohung mit erneuter Festnahme und Abschiebung, die zu einer Retraumatisierung führen kann", erklärte Angelika Claußen.

Spreu vom Weizen trennen

Auch Jörg List findet, dass der Begriff inflationär verwandt wird, meint damit aber die Zahl der an PTBS Erkrankten. "Umgekehrt proportional zur Befriedung des Kosovo steigt die Zahl von PTBS", sagte er in Anlehnung an ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Düsseldorf. "Für viele Ausländerbehörden ist das ein Reizwort geworden", klagt List über das "Massenphänomen". Die Krankheit, die für ihn kein Abschiebehindernis bedeutet, sei für die Betroffenen zwar schlimm, viele würden sie aber vortäuschen. "Da war die Schwierigkeit die Spreu vom Weizen zu trennen", sagte List. Durch das Düsseldorfer Urteil habe das Wort PTBS aber "seinen Schrecken für die Ausländerbehörden" verloren.

Bernd Mesovic sieht das Urteil anders. "Am liebsten würde ich Teile des Urteils des OVG hier im Stadttheater vorlesen lassen", sagte er. Tatsächlich enthält das Urteil vom Dezember vergangenen Jahres, das einer nachweislich an PTBS erkrankten Frau aus dem Kosovo den Abschiebeschutz verwehrte, einige skurrile Passagen. So wissen die Richter Lau, Anlauf und Pentermann die Frau habe "nicht etwa Gefahren wegen … allgemeiner Versorgungsnot oder Ähnlichem zu befürchten". Das UNHCR, die Schweizerische Flüchtlingshilfe und eine Delegation der Stadt Münster (WebWecker berichtete) kamen vor Ort zu ganz anderen Ergebnissen. Die Pogrome vom März gegen Roma, Ashkali und Serben vom März 2004 nennen die Richter "Auseinandersetzungen zwischen Volksgruppen".

"Abschiebungsschutz nach §53 Abs.6 AuslG soll dem Ausländer nicht eine Heilung von Krankheit unter Einsatz des sozialen Netzes der Bundesrepublik Deutschland sichern, sondern von gravierender Beeinträchtigung seiner Rechtsgüter Leib und Leben bewahren", entscheiden die Richter. "Im Übrigen leuchtet nicht ein, weshalb einem traumatisierten Ausländer nicht zugemutet werden dürfe, das Schicksal seiner in der Heimat verbliebenen ebenfalls traumatisierten Landsleute zu teilen", finden die drei Juristen.

Sie sind auch der Meinung, dass die PTBS im Kosovo ausreichend behandelt werden kann. Ein Fachmann kommt zu einem anderen Schluss. Wie das Deutsche Ärzteblatt in einem ausführlichen Bericht über die Problematik sechs Tage vor dem Urteil berichtete, besuchte der Psychologische Psychotherapeut beim Berliner Behandlungszentrum für Folteropfer, Ralf Weber, mit sieben Kollegen medizinische Einrichtungen in Serbien und Kosovo. "Nach Webers Einschätzung können traumatisierte Patienten in ihrer kosovarischen Heimat und in Serbien überhaupt nicht versorgt werden", schreibt das Ärzteblatt. "Das Gesundheitssystem werde auf Jahre hinaus nicht in der Lage sein, der adäquaten Behandlung psychisch Kranker nachzukommen", zitiert das Blatt den Experten. Behandlungsbedürftige Rückkehrer stellten zudem eine zusätzliche Belastung für das überforderte Gesundheitssystem dar. Im Kosovo gebe es schon jetzt 400.000 bis 500.000 traumatisierte Patienten.

"Das OVG hat Maßstäbe gesetzt. Selbst wenn eine PTBS vorliegt, ist das kein Abschiebehindernis", erklärte im Rathaus Jörg List seine Einschätzung des Urteils. Zudem sei auffällig, dass viele eine PTBS erst angeben würden, wenn sie ausreisen sollten. Bernd Mesovic wundert das nicht, er verweist darauf, dass auch Vietnam-Veteranen erst Jahre später über ihre psychischen Störungen sprechen konnten. Jörg List glaubt aber, dass die PTBS oft vorgetäuscht ist. "Es gibt Menschen, die lügen", sagte er. Der Staat habe auch eine Verpflichtung, "dass Menschen , die hier nicht sein dürfen, nicht hier sind".

Seine Aussagen brachten einige Zuhörer in Rage. "Mir ist das hier zu medizinisch", kritisierte eine ältere Dame. "Die Menschen haben Angst, das muss doch reichen. Wir können die nicht dahin schicken, wo sie Angst haben", findet sie. Die Juristen und Ausländerbehörden sehen das anders.


webwecker@aulbi.de

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