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Mindener Tageblatt , 08.10.2005 :

Deprimierende Zustände im polnischen Lager / Isidor Kirschrot emigriert über England in die USA / Karriere in der Armee / Minden später mehrfach besucht

Minden (y). Isidor Kirschrot wurde 1919 in Minden geboren. Als Sohn polnischer Juden schoben ihn die Nazis 1938 zusammen mit seiner Familie nach Polen ab (MT-Bericht am 24. September). Über England konnte er in die USA auswandern und machte in der US-Armee Karriere.

Von Werner Dirks und Kristan Kossack

Isidor Kirschrot berichtet über das Internierungslager Bentschen/Sbascyn: "In Polen wurden wir in einem Lager interniert, in dem sehr schlechte Lebensbedingungen herrschten. Es gab keine ausreichende Nahrungsmittelversorgung, zu wenig Schlafgelegenheiten und Latrinen."

Insgesamt war die Stimmung sehr deprimierend. Zionistisch orientierte Juden bemühten sich, dieses Chaos zu überwinden, zum einen durch Selbstverwaltung des Lagers, zum anderen wurden Jugendliche aus dem Lager über Rumänien nach Palästina geschleust. Das Internierungslager wurde von der polnischen Armee bewacht. Überschattet wurde der Aufenthalt von offiziellen Verhandlungen zwischen Polen und Deutschland, über die Rückführung nach Deutschland.

Unter den Juden aus Hannover waren übrigens die Eltern von Herschel Grynspan. Der Sohn war nach Paris geflüchtet. Er erfuhr am 7. November 1938 von der Deportation seiner Eltern, ging zur deutschen Botschaft und erschoss den III. Sekretär Ernst vom Rath - dieses Ereignis nahmen die Nazis in Deutschland zum Vorwand zur Reichspogromnacht am 9. November 1938.

"Die Eltern Grynspan wurden in unserem Lager abgeführt und nie wieder gesehen", erinnert sich Isidor Kirschrot. Er konnte Arbeit in der Lager-Verwaltung finden. In dieser Position gelang es ihm, Kontakt zu seinen Lehrern in Groß Breesen bei Breslau aufzunehmen, wo er nach seiner Vertreibung vom Mindener Besselgymnasium eine landwirtschaftliche Lehre begann. Die wiederum halfen ihm, ein Einreisevisum für England zu erhalten. Die Reise erfolgte über Deutschland und Belgien, für diese Länder erhielt er Transitvisa. Im Mai 1939 erhielt Isidors Mutter durch seine Vermittlung die Erlaubnis nach Minden zu reisen, um die ordnungsgemäße Veräußerung des Eigentums abzuwickeln.

Während die Mutter Helene Kirschrot in Minden war, kam ihr Sohn Isidor auf seiner Reise nach England, auf ein paar Tage bei ihr vorbei. Beim Besuch in Minden im Mai 1939 wurde er Zeuge, wie sie unter den gegebenen politischen und rechtlichen Umständen den Besitz verschleudern musste. Das Geld für den Hausverkauf wurde ihr nicht ausgehändigt. Lediglich das Geld für die Rückfahrkarte in das Lager nach Polen wurde ihr ausgezahlt. Nicht einmal ein paar Schuhe durfte sie für den Eigenbedarf entnehmen.

Einreise dank Eintrag ins Grundbuch

Isidor Kirschrots weitere Odyssee verlief wie folgt: Er war im Mai 1939, 20-jährig, nach England gekommen und fand eine Art Praktikumsplatz auf einem Bauernhof. Als Pole galt er als "befreundeter Ausländer". Zur Passverlängerung suchte er die polnische Botschaft auf. Dort signalisierte man ihm, er würde zur polnischen Armee eingezogen werden. Sofort forcierte er seine Emigration in die USA. "Mein kultureller Hintergrund war deutsch. Ich sprach kein Polnisch. Die polnische Armee bewachte uns im Lager Sbascyn. Die Polen wollten uns wieder abschieben."

Am 22. Mai 1940 verließ Kirschrot England mit dem Schiff und traf in New York am 1. Juni 1940 ein. Von dort ging es nach Virginia, wo ein wohlhabender Mann, namens Thalheimer, Land gekauft hatte und 44 Auswanderer als Eigentümer im Grundbuch eintragen ließ. Das ermöglichte allen die Einreise in die USA.

Als Kriegsfreiwilliger schneller eingebürgert

Isidor Kirschroth war aber noch kein amerikanischer Staatsbürger. Anfang 1942 meldete er sich als Kriegsfreiwilliger bei der US-Armee. Dadurch wurde er beschleunigt im Juni 1942 eingebürgert. 1943 kämpfte er bereits in Nordafrika gegen die Deutschen. "Ich hatte eine Rechnung mit Hitler offen. Innerhalb Deutschlands konnte ich den Kampf nicht führen."

Nach dem Krieg wurde Kirschrot Berufssoldat. Im Juli 1974 ging er als "Colonel" (Oberst) in Rente und starb im Jahr 2003. In Minden war er nach dem Krieg wiederholt zu Gast. Er besuchte hier seinen Onkel Max Ingberg, der aus der Emigration zurückgekehrt war und seit 1952 im ehemals Kirschrothschen Haus wieder ein Schuhgeschäft betrieb.

Werner Dirks aus Lavelsloh ist Diplom-Sozialwissenschaftler. Er arbeitet seit 1987 zur deutsch-jüdischen Emigration, unter anderem für die jüdische Kultusgemeinde Minden. Kristan Kossack aus Minden beschäftigt sich mit regionaler Zeitgeschichte (19. und 20. Jahrhundert) und hat diverse Veröffentlichungen verfasst.

08./09.10.2005
mt@mt-online.de

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