Lippische Landes-Zeitung ,
24.09.2005 :
(Lage-Hörste) Als wenn es gerade erst gewesen wäre / Radiogruppe "Deck 2" produziert im ver.di-Institut Hörbuch-Biografie "Damit wir's nicht vergessen" von Karla Raveh
Von Wolfgang Becker
Lage-Hörste. Ihre Stimme zittert nicht, als sie vom Unfassbaren redet. Die Worte kommen klar und deutlich über ihre Lippen, fast triumphierend. So, als wollte sie sagen: Hört her, ich habe es geschafft, ich habe überlebt, um Euch vom Grauen erzählen zu können, von dem was mir, meiner Familie und meinem Volk angetan wurde. Doch das spricht Karla Raveh nicht aus, als sie erzählt. Vor einem Mikrofon, in einem Tonstudio.
Die gebürtige Lemgoer Jüdin, vor 78 Jahren als Karla Frenkel in der Echternstraße geboren und heute in der Nähe von Haifa lebend, liest in der Radiowerkstatt des ver.di-Institutes für Bildung, Medien und Kunst die letzten Passagen für ihre Hörbuch-Biografie "Damit wir's nicht vergessen". Darin erinnert sie sich an die wichtigsten Stationen ihres Lebens, beispielsweise daran, wie es war, als Nazis die gesamte Familie Frenkel am 27. Juli 1942 über Bielefeld ins KZ Theresienstadt brachten. 1944 kam Karla Raveh nach Auschwitz, schließlich ins KZ Bergen-Belsen. Sie und ihre Großmutter überlebten als einzige den Holocaust.
Die Idee zu dem Hörbuch hatte Annette Pölert-Klassen, Lehrerin an der Karla-Raveh-Gesamtschule in Lemgo. Seit gut zwei Jahren arbeiten die beiden Frauen daran, immer wenn sich Karla Raveh wieder für ein paar Monate in der alten Hansestadt aufhält. "Wenn man eine so bedeutende Zeitzeugin kennt, dann hat man die Pflicht, an der Herstellung einer solchen Biografie mitzuwirken", erklärt Annette Pölert-Klassen. Sie kannte das Tonstudio in Hörste von einer Produktion für den TBV Lemgo und war begeistert von den Möglichkeiten, die sich dort bieten. "Wäre ich nicht zwischendurch krank geworden, wären wir schon früher fertig geworden", sagt Karla Raveh entschuldigend. Dass sie es geschafft hat, wieder gesund zu werden, ist auch ihrem unbeugsamen Lebenswillen zu verdanken. "Ich wollte das hier fertig bekommen. Schließlich habe ich mal ja gesagt, mitzumachen", fährt sie fort.
Angetan von ihrem Gast und ihrer so diszipliniert bewerkstelligten Arbeit ist auch Wolfgang Benning, der in dem Tonstudio normalerweise Sendungen für den von Radio Lippe ausgestrahlten Bürgerfunk produziert. "Bürgerfunk ist, bitte nicht falsch verstehen, Fließband-Arbeit. Das, was wir aber hier zur Zeit auf die Beine stellen, ist ein ganz besonderes Projekt, das unseren ganzen Elan verlangt", unterstreicht Benning. Das erforderliche Maß an hoher technischer Professionalität steuert Wolfgang Blanke von der Radiogruppe "Deck 2" bei. Er verbindet O-Töne aus antisemitischen Hetzreden von Hitler und Göbbels mit den Passagen, die Karla Raveh aus ihren Lebenserinnerungen zitiert. Die bedrückende Authentizität des Werkes wird schließlich durch einführende Textbeiträge erreicht, die Peter-Uwe Witt vom Landestheater Detmold mit einer Schauspielerin liest. Alles zusammen, auch die Einspielung jiddischer Musik, ergibt ein plastisches "Hörbild", Szenen von einst, wie die Reichspogrom-Nacht oder die Deportation der Familie Frenkel ins Konzentrationslager, erwachen wieder zum Leben.
Dabei emotional unbeteiligt zu bleiben, gelingt Wolfgang Blanke nicht. Mehrmals stößt er gefühlsmäßig an seine Grenzen. "Das Ergebnis ist bewegend. Manchmal gibt es recht heftige Szenen. Plötzlich hat man ein persönliches Schicksal ganz klar vor Augen. Das geht einem sehr nah."
"Ich werde sie nie vergessen können"
Karla Raveh
Karla Raveh spannt in dem Hörbuch einen Bogen von ihrer Kindheit bis zu ihrer Befreiung aus dem KZ. Dabei hat sie auf ihre Aufzeichnungen zurückgegriffen, die sie vor gut 20 Jahren auf Anregung der Lemgoer Lehrerin Hanne Pohlmann anfertigte. "Alle Eindrücke sind immer noch frisch, als wenn es gerade erst gewesen wäre. Ich werde sie nie vergessen können", sagt Karla Raveh.
Der Cornelsen-Verlag hat Interesse, das sechs CDs umfassende Hörbuch auf den Markt zu bringen. Es soll dann auch in Schulen als Unterrichtsmaterial eingesetzt werden.
24./25.09.2005
Lage@lz-online.de
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