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Mindener Tageblatt , 24.09.2005 :

In Hannover mit Steinen beworfen / Jüdische Familien nach Jahren der Ausgrenzung von Minden nach Polen abgeschoben

Minden (y). Juden polnischer Herkunft lebten zwischen den Weltkriegen auch in Minden. Sie wurden nach Jahren der Ausgrenzung bereits im Oktober 1938 nach Osteuropa abgeschoben.

Von Werner Dirks und Kristan Kossack

In Minden waren von dieser Abschiebung die Familien Gerstensang, Ingberg, Widawsky, Kutschinsky und Kirschroth betroffen. Isidor Kirschroth überlebte als Einziger aus seiner Familie die Nazizeit. Er hat der Spielberg-Foundation am 12. Juli 1997 ein Interview gegeben, im Jahr 2000 eine kleine Biographie verfasst und im persönlichen Gespräch über die Abschiebungen und sein Emigrantenschicksal berichtet.

Die am 15. Juni 1898 in Warschau geborene Mutter von Isidor, Helene Kirschroth (geb. Ingberg), war bereits als Kind mit ihren Eltern nach Minden gezogen. Aufgrund ihrer polnischen Sprachkenntnisse hatte sie als junge Frau Gelegenheit, in einem Mindener Kriegsgefangenenlager als Übersetzerin zu arbeiten. Hier lernte sie 1915 den polnischen Kriegsgefangenen Samuel Kirschroth, geb. 03.04.1893, den späteren Vater von Isidor, kennen. Aus dieser Ehe gingen drei Kinder hervor: Isidor (geb. 11. Februar 1919), Herbert (geb. 22. Dezember 1920) und Charlotte (geb. 4. September 1923).

Engagierte Sozialdemokraten

Die Familie hatte ihr Wohn- und Geschäftshaus in der Simeonstraße 8. Der Vater führte das Schuh- und Konfektionsgeschäft "Kirschroth's billige Bezugsquelle". Die Mutter half ihm und führte den Haushalt. Isidor besuchte erst vier Jahre die Kaiserschule und wechselte 1929 auf die Besseloberrealschule. Nach eigenen Angaben spielte er bis 1933 fast ausschließlich mit den christlichen Kindern in der Nachbarschaft der Simeonstraße.

Er erinnert sich, wie sie als Kinder an der Weser auf vorbeifahrende Schlepper warteten, sich dann bemühten heran zu schwimmen, um sich am anhängenden Beiboot hochzuziehen. Nach zwei Kilometern ging es zurück ins Wasser und die Strömung brachte sie zurück an den Ausgangspunkt. Natürlich durften die Eltern davon nichts erfahren.

Die Eltern waren engagierte Sozialdemokraten und der private Freundeskreis bestand aus Parteifreunden. Das soziale Leben der gesamten Familie war durch diese Parteizugehörigkeit geprägt. Isidor hebt im Rückblick ausdrücklich hervor, wie solidarisch sich die Genossen auch nach 1933 verhalten haben. "Diese Solidarität", so Isidor, "vermied, dass wir unter dem Boykott finanziell zu sehr litten". Jedoch, ab 1933 gab es keine öffentlichen Aktivitäten der SPD mehr, die Partei war verboten. Die Freunde aus der Simeonstraße wandten sich nach 1933 von Isidor ab und er berichtet, wie er sich nun dem "Bund deutsch-jüdischer Jugend" bzw. den Aktivitäten der jüdischen Gemeinde zuwandte. Bis dahin war das "Jude sein" nur etwas, was für ihn an den Feiertagen von Bedeutung war. Jetzt änderte sich dies völlig. Fahrten, Ausflüge und andere Kulturveranstaltungen gab es für Juden, nur noch unter Juden. Positiv vermerkt Isidor, dass Befindlichkeiten zwischen den alteingesessenen deutschen Juden und den ärmeren, kinderreichen, polnisch-stämmigen Juden nach 1933 an Bedeutung verloren. Isidor mochte den Rabbiner Hellmann.

Mit dem Rücken zur Wand

Schon Ende der 20er-Jahre lernte Isidor die gesamte jüdische Gemeinde in Minden kennen, da er im Auftrage vom Rabbiner Haussammlungen durchführte.

Genau wie sich die Freunde auf der Straße von Isidor abwandten, war es auch in der Schule. "Am Besselgymnasium waren wir vier Juden. Während der Pause sprach niemand mit uns. Ich war immer bemüht mit dem Rücken zur Wand zu stehen, um Schläge aus dem Hinterhalt zu vermeiden. Nachdem der Hass gegen uns immer größer wurde, war ich am Ende der einzige Jude an der Schule. Der Lehrer platzierte mich alleine vor der Klasse, so erhielt die Klasse Gelegenheit, mich unerkannt von hinten zu bewerfen und zu schikanieren."

1934 hielt er es nicht mehr aus und verlies mitten im Schuljahr die Schule, um beim jüdischen Kaufhaus Ründenberg in Bad Oeynhausen eine Ausbildung als Dekorateur zu machen. Isidor bekam mit, wie nach und nach, die Abteilungsleiter aus dem Geschäft ins Ausland gingen. Während sein Vater der Meinung war, dass die Nazis nur eine temporäre Bedrohung sind, beurteilten diese Männer die Lage sehr kritisch.

Isidor glaubte die Kaufhausangestellten hätten den besseren Überblick. Als das jüdische Kaufhaus Ründenberg von den Nazis enteignet wurde, war es auch mit Isidors Ausbildung vorbei. Ohne Schul- und Berufsausbildung bezahlte der Vater ihm und seinem Bruder Herbert anschließend eine landwirtschaftliche Ausbildung in Groß Breesen, bei Breslau. Eine jüdische Hilfsorganisation betrieb diese Ausbildungsstätte, um jüdische Jugendliche zu qualifizieren und für die Auswanderung vorzubereiten. Ein Schwerpunkt lag auf dem Erwerb von Sprachkenntnissen.

Viele mögliche Emigrationsländer hatten zwar Quotenregelungen für Zuwanderer, doch qualifizierte Landwirte durften deutlich erleichtert einreisen. Diese Option eröffnete sich durch den Schulbesuch in Groß Breesen für Herbert und Isidor. Doch 1938, vor regulärem Abschluss der Schule mussten die beiden die Ausbildung abbrechen, denn der Vater hatte nicht mehr genügend Geld, um es weiter zu finanzieren. Herbert arbeitete im Anschluss bei einem Bauern in Friesland und Isidor bei einem jüdischen Landwirt in Uchte.

24./25.09.2005
mt@mt-online.de

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