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Bielefelder Tageblatt (BW) , 13.09.2005 :

Radieschen zum Frühstück / Bielefelder Studenten auf Begegnungsreise in Polen und der Ukraine

Von Ulf Hanke

Bielefeld. Seit der Visa-Affäre wissen auch die West-Deutschen, was Reisefreiheit bedeutet. Doch kaum ein Ostwestfale käme je auf die Idee, die Freiheit im Osten zu suchen und in die Ukraine einzureisen. Dabei ist es so einfach: Seit der Orangenen Revolution genügt der Reisepass um reinzukommen. Eine Gruppe Bielefelder Studenten machte den großen Schritt nach Osten und traf Kommilitonen aus Polen und der Ukraine in Rzeszów, Przemysl (Polen) und Lwiw (Ukraine).

Damit folgten die Studenten einer Einladung aus dem vergangenen Jahr. Bei einem Seminar an der Europaakademie Rzeszów hatten die ukrainischen Kommilitonen zum Gegenbesuch eingeladen. Organisiert wurde die Fahrt vom Bielefelder Ratsherr Ingo Stucke für den Freundeskreis der Städtepartnerschaft Bielefeld-Rzeszów.

Die Begegnungsreise hatte Expeditions-Charakter. So lernten die Bielefelder in Polen etwa, dass man Radieschen auch zum Frühstück essen kann oder in der Ukraine auch mal ganz auf das Frühstück verzichten muss, wenn man Vegetarier ist. Auch verstummte die deutsche Asphalt-Lästerei nach den ersten Metern auf ukrainischen Ruckelpisten. Maja Furman, Ehefrau des polnischen Mitorganisators und Politik-Dozenten Wojciech Furman, drehte sich zu den Deutschen um und sagte lachend: "Und ihr schimpft über polnische Straßen?"

Am ukrainischen Zoll endete die gemeinsam Busreise vorläufig. Deutsche und Ukrainer mussten aussteigen. Der Grund: Das polnische Busunternehmen durfte nach Auskunft des ukrainischen Grenzbeamten keine Nicht-Polen in die Ukraine befördern. Der Busfahrer hätte zwar eine Sondergenehmigung an der Grenze nachträglich bekommen können, dafür aber rund 300 Dollar zahlen sollen. Trotz anderthalb Stunden Palavers gings nicht voran. Die Studenten zahlten nicht, Ukrainer und Deutsche mussten aussteigen und zu Fuß über die Grenze.

Nach der Passkontrolle konnten Deutsche und Ukrainer wieder zu ihren polnischen Kommilitonen einsteigen und nach Lwiw weiterfahren, die Partnerstadt Rzeszóws. Diese rund 800.000 Einwohner zählende Universitätsstadt war unter österreich-ungarischer Herrschaft die Hauptstadt der Provinz Galizien. Das ehemalige Landesparlament ist heute Sitz der Universität und der Plenarsaal ist das Auditorium Maximum. Auf der Agenda der dreisprachigen Reisegruppe standen jedoch keine Vorlesungen, sondern Diskussionen über das schwierige polnisch-ukrainische Verhältnis und die Situation der jeweiligen Minderheit im Nachbarland mit dem Historiker Professor Bohdan Hut.

Damit tauchten die Studenten tief ein in die zerrissene Geschichte Ostgaliziens. Eine Region, die geprägt wurde durch die Verbrechen der Wehrmacht, den Völkermord an den Juden und die wechselseitige Vertreibung der Polen und Ukrainer. Auf dem Litschakiw-Friedhof legten die Studenten gemeinsam Blumen nieder. Erst vor wenigen Monaten hatten die Staatspräsidenten Polens und der Ukraine einen Teil des Friedhofs neueröffnet, auf dem polnischen und ukrainischen Soldaten gedacht wird. Ihre Gräber sind allerdings durch eine Mauer aus Beton getrennt.


lok-red.bielefeld@neue-westfaelische.de

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