www.hiergeblieben.de

Informationsveranstaltung , 30.06.2005 :

"Bialystok in Bielefeld. Der Mord an den Juden Bialystoks und die Prozesse vor dem Landgericht Bielefeld."

Donnerstag, 30. Juni 2005 um 19.00 Uhr

Veranstaltungsort:

Oskar Münsterberg-Haus
Hornsche Straße 38
32756 Detmold

Vortrag von Katrin Stoll, Mitherausgeberin des Sammelbandes "Bialystok in Bielefeld"

Veranstalterin: Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Lippe e.V.

http://www.GfCJZ-Lippe.de/

Die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Lippe e.V. setzt damit eine im vergangenen Jahr begonnene Vortragsreihe fort, welche die Geschichte europäischer Vernichtungslager zum Inhalt hat.




WebWecker Bielefeld, 12.05.2004: Bialystok in Bielefeld

Von Manfred Horn

Der Historische Verein hatte am Dienstag Abend in die Kunsthalle geladen: Freia Anders referierte über die Verhandlung nationalsozialistischer Verbrechen vor dem Bielefelder Landgericht 1958 bis 1967. Grundlage des Referats ist das von ihr zusammen mit Hauke-Hendrik Kutscher und Katrin Stoll herausgegebene Buch "Bialystok in Bielefeld", das Ende 2003 im Verlag für Regionalgeschichte erschien.

Damals wie heute ist das Interesse an dem Prozess gegen einen Teil der natinonalsozialistischen Täter im Bezirk Bialystok mäßig. Bei den Recherchen zum Buch sprach die an der Universität Bielefeld promovierende Historikerin Anders auch mit einem der damals vorsitzenden Richter Günter Witte: Jeder Einbrecherprozess hätte mehr Zuschauer gehabt. Nur der in den Jahren 1963-1965 in Frankfurt stattfindende Auschwitz-Prozess wurde mit größerem öffentlichen Interesse wahrgenommen, ein weiterer Bedarf zur Klärung der nationalsozialistischen Verbrechensgeschichte bestand in den 1960er Jahren nicht, wie Freia Anders feststellt.

Dabei war der Bialystok-Prozeß alles andere als klein: 227 Aktenordner Material waren zu sichten, 186 Zeugen wurden gehört. 40 der Zeugen kamen aus dem Ausland, zehn Zeugen wurden sogar an ihrem Wonhort vernommen, unter anderem in New York. Bevor es 1967 zum Schuldspruch gegen die vier Angeklagten kam wurde über ein Jahr verhandelt. Sie wurden zu Gefängnisstrafen zwischen fünf und neun Jahren verurteilt. Ein damals durchaus übliches Strafmaß. Das Urteil hielt auch einer Revision vor dem Bundesgerichtshof im Jahr 1970 stand. Herbert Zimmermann, der fünfte Angeklagte, der in Bielefeld wohnte und gegen den bereits 1959 vor dem Landgericht verhandelt wurde, entzog sich dem Prozeß durch Selbstmord.

Die Angeklagten waren als Leiter beziehungsweise Mitarbeiter der Dienststelle des "Kommandeurs der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes für den Bezirk Bialystok" (KdS) an der Deportation der jüdischen Bevölkerung des Bezirks Bialystok in die Vernichtungslager beteiligt. Mit dem Bielefelder Bialystokprozess wurden Schreibtischtäter ins Visier genommen und zudem der bis dahin juristisch ausgeblendete Tatbestand der Deportation beleuchtet. Den angeklagten Kommandeuren wurde vom Gericht Beihilfe zum Mord an mehr als 30.000 Ghettobewohnern vorgeworfen.

Bialystok war die osteuropäische Stadt mit dem höchsten Anteil an jüdischen Bürgern, geschätze 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung. Während des Krieges wurde die Stadt von Wehrmacht und nationalsozialistischer Verwaltung besetzt und in Bialystok ein jüdisches Ghetto eingerichtet. Ab November 1942 begann dann die Deportation aus dem Ghetto in die Vernichtungslager. Die Ghettobewohner in Wagons verladen und in die Konzentrationslager gebracht. Geschätze 100.000 jüdische Menschen wurden so zwischen November 1942 und Februar 1943 deportiert, die übriggebliebenen 30.000 Ghettobewohner im August 1943.

Die Strategie der Angeklagten und ihrer Anwälte im Bielefelder Prozess war gewöhnlich: Neutralisierung der Zeugen durch Verwicklung in Widersprüche, ansonsten: Nichts gewußt, nicht nachgedacht oder sogar intern protestiert. Den Angeklagten teilweise vorgeworfene selbst ausgeübte Morde stritten diese kategorisch ab. Da dem Gericht die Beweise dafür fehlten, konzentrierte es sich auf den Anklagepunkt Beihilfe. Doch auch hier waren die Angeklagten wenig geständig: So führte der Beklagte Wilhem Altenloh aus, der Obersturmbandführer Günther habe ihm die Befehlsgewalt entzogen, er hingegen hätte gewollt, dass das Ghetto erhalten bleibt. Schließlich seien die Juden wertvolle Arbeitskräfte gewesen. Diese und weitere Aussagen der Angeklagten sind auf insgesamt 40 Kilogramm Tonbändern erhalten. Eine Besonderheit, wurden derartige Aufzeichnungen normalerweise nach Ende eines Prozeßes vernichtet. Aus ungeklärten Umständen wurden die Bänder dieses Prozeßes aber aufbewahrt und bieten heute eine besondere Quelle für die Geschichtswissenschaft. Nur aus dem Frankfurter Auschwitz-Prozess sind ansonsten noch Audio-Aufzeichnungen von NS-Prozeßen in der Bundesrepublik erhalten.

Der Bialystok-Prozess war insofern auch besonders, als dass das Gericht, nachdem es merkte, dass die Aktenlage wenig beweiskräftig war, selbst Recherchen anstellte. So wurde erst in diesem Prozeß an Hand von Listen belegt, dass die Deportierten aus den Ghettos im Bezirk Bialystok auch tatsächlich in den Vernichtungslagern ankamen. Im Zuge des Prozesses und auf Anweisung des Gerichts wurden auch geheime Aufzeichnungen von Ghettobewohnern aus dem polnischen in die deutsche Sprache übersetzt.

Rückblickend konstatieren Historiker der Rechtssprechung in den Nachkriegsjahren Versagen, sie sprechen von "schwersten Unterlassungsschäden", wie Anders ausführt. Eine "Gehilfenjudikatur" zeichnete sich ab: Wenn überhaupt Täter, dann haben die meisten nur geholfen, auf Befehl ausgeführt. Wirklich verantwortlich wollte keiner sein. Und auch die Gerichte folgten oft dieser Argumentation angeklagter NS-Täter. Aus der Retrospektive wird aber auch deutlich: Es gab damals viel mehr Entscheidungsträger. Auch solche auf lokaler Ebene hatten eine Bedeutung und Verantwortung. Der Bialystok-Prozess relativiert dieses Urteil in gewisser Weise: Das Gericht bemühte sich, stand aber vor einer ungewöhnlichen Aufgabe und hatte nicht viel Unterstützung. Der Forschungsstand über die NS-Verbrechen in den 1960er Jahren war gering, die Gesellschaft und Politik im allgemeinen war nicht sonderlich an Aufklärung interessiert.

Das Buch nun, entstanden in eineinhalb jähriger intensiver Arbeit der drei AutorInnen, die allesamt aus der Geschichtsfakultät der Bielefelder Universtität kommen, liefert eine rechtsgeschichtliche Perspektive auf den Prozeß und die damit verknüpften Ereignisse in den Jahren 1942 und 1943. An dem Buch hat auch Sara Bender mitgewirkt, eine Historikerin aus Israel, die ebenfalls über Bialystok forscht, sowie Lorenz Schulz, Professor für Strafrecht an der Universität Frankfurt. Herausgekommen ist ein Buch mit spezifischem Gewicht: Wer ein populäre Abhandlung über die Deportation der Bialystoker Juden sucht, wird hier sicherlich nicht adäquat bedient. Das Buch ist wichtig, weil es die historischen Ereignisse mit der juristischen Aufarbeitung verknüpft und einen Prozeß an die Oberfläche zurückholt, der sonst wohl endgültig in Vergessenheit geraten wäre. So aber ist das Buch bedeutender Ausgangspunkt weiterer Forschungen über ein schreckliches Thema der jüngsten Zeitgeschichte. Es ist an der Zeit, neben dem zweifelsohne bedeutenden Auschwitz-Prozess, dem in Frankfurt noch bis zum 23. Mai durch eine Ausstellung gedacht wird, auch andere Verfahren gegen NS-Verbrecher wie eben der Bialystok-Prozeß in Bielefeld näher zu durchleuchten.

Das Buch zeigt auch die Schwierigkeiten eines Staates, mit den Verbrechen einer anderen Gesellschafts- und Rechtsordnung umzugehen, die auf gleichem Territorium geschehen sind – auch unter Berücksichtigung ideologischer und personeller Kontinuitäten.

Eine beigefügte CD bietet eine Fülle an Dokumenten, Fotos, Karten, Interviews mit beteiligten Juristen sowie die Möglichkeit, eine äußerst seltene, authentische Quelle – Tonbandausschnitte aus den Vernehmungen der Hauptverhandlung – im Originalton zu hören.

Freia Anders / Hauke-Hendrik Kutscher / Katrin Stoll (Hg.): Bialystok in Bielefeld
Nationalsozialistischer Verbrechen vor dem Landgericht Bielefeld 1958 bis 1967, 2003. ISBN 3-89534-458-3. 19,00 Euro Ladenpreis. Erschienen im Verlag für Regionalgeschichte: http://www.regionalgeschichte.de/



gfcjz-lippe@web.de

zurück