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Neue Westfälische , 15.06.2005 :

(Oerlinghausen) Hoffnung trotz des Grauens / Gerda Held las aus Marianne Webers Buch "Frauen auf der Flucht"

Oerlinghausen (step). "Werden wir uns je wieder über Kleinigkeiten ärgern können?" Diesen Satz schrieb eine Frau auf, die 1945 mit ihren Kindern auf der Flucht war vor der Roten Armee. Ihren Kindern band sie Kissen auf den Kopf, die sie mit einer Schüssel fixierte - als Schutz vor den Tieffliegern. Sie bewegten sich zwischen russischen Panzern und deutscher Abwehr. Diese Schilderungen sind Teil des Buches "Frauen auf der Flucht" von Marianne Weber, das vom gleichnamigen Oerlinghauser Institut herausgegeben worden ist. Vorstandsmitglied Gerda Held las nun im Bürgerhaus Auszüge daraus vor.

In dem Erlebnisbericht über die Müdigkeit, die Angst und das Grauen der Flucht erzählt die Frau, wie sich im Angesicht der Not die Sichtweise auf das Leben verändert. Er ist einer von 13 Schicksalsberichten, die die Autorin und Frauenrechtlerin Marianne Weber zusammengetragen hat. Das Material hatte der Institutsgründer, Richard Grathoff, durch einen Hinweis des Adoptivsohnes, Max Weber-Schäfer, aus dem Nachlass von Marianne und Max Weber bekommen. Die Texte waren zum Teil sogar noch handschriftlich überliefert und wurden im Münchner Handschriften-Archiv aufbewahrt.

Die zusammengestellten Berichte spiegeln die Schicksale einzelner Frauen wider. Sie unterscheiden sich jedoch im Stil von einander. Sachlich, nüchterne Texte stehen neben literarisch- poetischen. Trotz den sich unterscheidenden Erlebnissen zeigen sich Gemeinsamkeiten in den Frauenschicksalen. Sie alle besannen sich auf das Wesentliche im Leben, lernten von materiellen Besitz Abschied zu nehmen und die Hoffnung nicht aufzugeben. Diese Hoffnung wurde aufrechterhalten durch einen festen Glauben, enge soziale Beziehungen und geistige Ideale. Beschrieben wird im Einzelnen, wie eine polnische Kunsthistorikerin, Karolina Lanckoronska, es schafft, als politische Gefangene im KZ Ravensbrück ihren Lebenswillen auch angesichts konkreter Bedrohung nicht zu verlieren. Sie unterrichtete andere Gefangene in Geschichte, Kunst und Literatur.

Eine andere Frau, die im zerstörten Potsdam ums Überleben ihrer Familie kämpfte, erzählte, dass sie verstanden hätte, was der Satz "Unser täglich Brot gib uns heute" bedeutete. Lili Böhmer, eine Frau die 1945 ihre Heimat Königsberg verließ, berichtete von ihren Erlebnissen auf einem der Flüchtlingsschiffe, die nach Norddeutschland fuhren. Der Leser findet eindringliche Schilderungen über Verletzte und Tote an Bord. Doch ebenso beschreibt sie auch die Gefühle, die sie empfindet, als sie nach der Schiffsreise die ersten Frühlingsblumen entdeckt.

Immer wieder vermischen sich in den von Weber gesammelten Berichten grauenhafte Schicksalsbeschreibungen über Hunger, Tod und Gewalt mit Momenten der Hoffnung, wenn zum Beispiel tschechische Bauern schlesische Flüchtlinge mit Nahrungsmitteln versorgten. Es ist kein Buch, das anklagt, sondern eines, das versucht zu zeigen, wie die Frauen ihr damaliges Leben entgegen aller Umstände gemeistert haben.


cla@neue-westfaelische.de

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