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WebWecker Bielefeld , 15.06.2005 :

(Bielefeld) Überlebender des Holocaust im Theaterlabor

Jules Schelvis, einer der wenigen Überlebenden des Vernichtungslager Sobibors, ist am 23. Juni auf Einladung der "Intiative gegen Ausgrenzung" zu Gast in Bielefeld. Schelvis war bereits im Februar 2004 im Theaterlabor, ebenfalls von der Inititative eingeladen (WebWecker berichtete). Während er damals im Schwerpunkt zu seiner Biographie und zum Vernichtungslager Sobibor sprach, wird er diesmal über seine Erfahrungen in den verschiedenen nationalsozialistischen Lagern berichten, die er zwischen 1943 und 1945 erleben musste, nachdem er in Sobibor zur Zwangsarbeit selektiert wurde.

Veranstaltung mit Jules Schelvis am Donnerstag, 23. Juni, 19.30 Uhr, Theaterlabor Tor 6, Eintritt frei.

Eine Rezension des aktuellen Buches von Schelvis "Eine Reise durch die Finsternis" finden sie in den WebWecker Buch-Tipps:

Jules Schelvis, "Eine Reise durch die Finsternis. Ein Bericht über zwei Jahre in deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern." (April 2005)

"Westerbork, Sobibor, Dorohucza, Radom, Lublin, Tomaszow, Auschwitz, Vaihingen", diese Orte sind auf dem Umschlag des neuen Titel von Jules Schelvis zu lesen, doch wer hat schon von Dorohucza oder Tomaszow gehört? Auch dem Autor, 1921 in einer jüdischen Familie in Amsterdam geboren, waren diese Orte unbekannt, bevor er sie auf seiner absurden Odyssee durch die nationalsozialistischen Lager kennenlernen musste, die am 1.Juni 1943 mit der Deportation von Westerbork nach Sobibor begann.

Der Autor des Standardwerkes über das Vernichtungslager Sobibor gibt in seinem autobiographischen Bericht "Eine Reise durch die Finsternis" detailliert und schockierend Auskunft über seine Erlebnisse in diesen Lagern. Direkt nach seiner Befreiung während eines längeren Krankenhausaufenthaltes hielt Jules Schelvis seine Erlebnisse fest, 1982 erschien sein Bericht in den Niederlanden. Bis zur deutschsprachigen Übersetzung hat es bedauerlicherweise noch einmal über zwanzig Jahre gedauert. Jules Schelvis Erfahrungen dokumentieren konkret und drastisch die Verflechtung der unterschiedlichen Typen der nationalsozialistischen Lager und ihre engmaschige Vernetzung: So überlebt er Ghettoisierung in den Niederlanden, Konzentrations- und Deportationslager wie Westerbork, Vernichtungslager wie Sobibor, das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz, das Konzentrations- und Zwangsarbeitlager "Alter Fugplatz" in Lublin, Ghetto- und Arbeitslager wie Radom oder Tomaszow, Arbeitslager wie Dorohucza oder Vaihingen an der Enz, zudem Todesmärsche von einem Lager zum anderen, Erschießungsaktionen und „Vernichtung durch Arbeit“. Immer leiden die Häftlinge unter der Willkür ihrer Bewacher, insbesondere der SS, immer sind sie konfrontiert mit den denkbar ungünstigsten Bedingungen: mangelhafte und unzureichende Ernährung, keine Krankheitsversorgung, mehr als unzureichende hygienische Bedingungen. Ständige Begleiter sind Läuse, Typhus, die SS, ukrainisches Wachpersonal. Allerdings variieren die Bedingungen in den diversen Lagern graduell, dennoch entscheidend über Leben oder Tod. Das Arbeitslager Vaihingen an der Enz, die entkräfteten Häftlinge mussten dort in einem Steinbruch Schwerstarbeit verrichten, bezeichnet der Autor auch als Vernichtungslager. "Hier kämpfte jeder um das nackte Überleben. Man musste aus eigener Kraft, mit bloßen Händen, geschwollenen Füßen und leerem Magen, den Kampf gegen die SS, die Einsamkeit, die Menschen ringsum, die Läuse, das Wetter und die Zeit führen. Für die Schwächsten, von denen die meisten schon drei Jahre oder länger unter der Naziherrschaft gelitten hatten, war es eine Frage, wie lange sie noch durchhalten konnten. Die Sterberate stieg rapide ( ... )", und das kurz vor Kriegsende.

Wie konnte Jules Schelvis, wie konnten Menschen diese erbarmungslose Verfolgung und Ausbeutung bis zum Letzten überleben? Es gibt keine eindeutige Ursache, eher günstige Umstände wie die tiefe Freundschaft zwischen den drei deportierten Niederländern Jules Schelvis, Leo de Vries und Joop Wins, die versuchten während ihrer sinnlosen Odyssee nicht getrennt zu werden, um sich gegenseitig moralischen und auch praktischen Halt zu geben. Das Erleben von Solidarität in äußerst prekären Verhältnissen und immer wieder unberechenbares Glück und unvorhersehbare Zufälle, hatten kurzfristig erst einmal das Leben, wie auch immer, statt den Tod zur Folge, aus heutiger Sicht fast unglaublich. Auch der Taschenspiegel mit dem Porträt Rachels, Jules Schelvis erster Ehefrau, scheint eine Rolle zu spielen. Unmittelbar nach der Ankunft in Sobibor wird das Ehepaar Schelvis plötzlich getrennt, ein unerwarteter Abschied für immer, denn "Chel" wird wie fast alle Menschen dieses Transportes aus den Niederlanden sofort in der Gaskammer von Sobibor ermordet. Trotz der nüchternen Sprache wird der Schmerz über diesen Verlust mehr als deutlich. Jules Schelvis gelingt es, dieses Liebespfand die ganze folgende Zeit bei sich zu behalten, immer wieder findet er neue Verstecke für seinen Talisman. am 8. April 1945 erlebt Jules Schelvis aufgrund von Typhus mit dem Tode ringend in Vaihingen die unspektakuläre Befreiung durch die französische Armee. Sein Freund Leo de Vries, der seinen Weg durch die Lager teilte, starb kurz vor der Befreiung an Entkräftung. Joop Wins, den Dritten aus dem Trio, trifft er direkt nach seiner Rückkehr nach Amsterdam Ende Juni 1945 im ehemaligen Judenviertel zufällig auf der Straße wieder. Der Taschenspiegel kommt überaus symbolträchtig während der Rekonvaleszenz im Krankhaus plötzlich abhanden, Jules Schelvis vergisst ihn auf der Ablage vor dem Duschen. "Ich hatte das Kostbarste verloren, was ich in jenem Moment besaß", ein Erinnerungsstück an das alte Leben, das komplett ausgelöscht war, keine Anknüpfung an Vertrautes ist möglich.

Auch wenn es mittlerweile viele veröffentlichte Berichte von Überlebenden des Nationalsozialismus gibt, auch jetzt noch, sechzig Jahre nach Kriegsende macht es Sinn, sich für diese Zeitzeugnisse Zeit zu nehmen. Sicherlich war es für die Überlebenden alles andere als leicht, sich zu erinnern. Ihre Berichte sind einzigartige Dokumente, die Antworten auf teilweise immer noch ungeklärte Fragen geben. "Die Generation dieses Jahrhunderts, die sich etwas eingehender mit der Judenverfolgung beschäftigen will, kann sich keine Vorstellung davon machen, was in Wirklichkeit passiert ist. Es ist möglich, dass zum Zeitpunkt der Herausgabe dieses Buches auf Deutsch, sechzig Jahre danach, in bereits existierenden und noch folgenden Publikationen ein Bild entstehen kann, dass nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Wer soll das dann noch beurteilen? Darum beschreibt der Autor äußerst genau, was ihm, als einem der wenigen, die sowohl Sobibor, Auschwitz als auch zahllose andere Lager überlebt haben, widerfahren ist", so Jules Schelvis in Vorwort zu seiner "Reise durch die Finsternis", dem ist nichts hinzuzufügen.

Jules Schelvis, Eine Reise durch die Finsternis. Ein Bericht über zwei Jahre in deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern. Reihe antifaschistischer Texte, Unrast Verlag, 192 S., 2005, 16 Euro


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