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11.06.2005 :
(Hameln) 16-Jähriger hob das Grab des Doktors aus / Jetzt weiß man, wo der Hamelner Arzt Kratzenstein auf dem Jüdischen Friedhof beerdigt wurde
Hameln (wul). Es war eine Nacht im November, vielleicht war es auch schon Dezember, im Jahr 1938 - nicht irgendeine, sondern die Nacht, in der Josef Speckmann den geschätzten Hamelner Arzt Dr. Siegmund Kratzenstein begrub. Kratzenstein: Jude. Speckmann: 16-jähriger Lehrling in der Gärtnerei Michelsen, den das schlechte Gewissen überkam, dass er dieses Geheimnis so lange gehütet hatte, und der jetzt im Alter von 82 Jahren nach Hameln kam, um es preiszugeben: Die Stelle auf dem Jüdischen Friedhof, an der sich Kratzensteins letzte Ruhestätte befindet.
"Er hat sich so gut an alles erinnert", sagt Rachel Dohme von der Jüdischen Gemeinde, nachdem sie sich am Vormittag die Grabstätte hatte zeigen lassen. Zweifel an der Geschichte, die Speckmann zu erzählen hat? Keine. Auch der Hamelner Historiker Bernhard Gelderblom, der sich intensiv mit Dr. Kratzensteins Leben und Sterben befasst hat, hält sie "insgesamt für sehr glaubhaft". Auch, wenn Speckmann über den Zeitpunkt nicht exakt "orientiert" gewesen sei.
Dass nun bestätigt scheint, wo Kratzenstein begraben liegt, liefert einen weiteren Puzzlestein zur Aufarbeitung der NS-Zeit in Hameln. Zur Bedeutung der kleinen, buckeligen Person mit dem Zwirbelbart, zur Persönlichkeit Kratzensteins selbst, weiß Gelderblom mehr: "Er ist wie ein Heiliger gewesen. Sehr, sehr menschenfreundlich, einige seiner Patienten hat er kostenlos behandelt." Ein allseits beliebter Arzt, der auch der letzte Vorsteher der Synagoge in Hameln war.
Als Speckmann von seiner Angst auslösenden Aufgabe als Jugendlicher erzählt, hören ihm die Gäste, die der Einladung der Jüdischen Gemeinde gefolgt sind, gebannt zu. "Heb du das Grab für Kratzenstein aus", habe sein über 70-jähriger Lehrmeister und Friedhofsgärtner Michelsen ihm damals aufgetragen. Michelsen: Christ und Freund vieler Hamelner Juden. Juden auf dem Friedhof zu begraben, war in jener Zeit verboten, alles musste heimlich passieren, nachts. An die "Menschlichkeit" habe der Chef appelliert. Mit ihm die beiden Juden Löwenstein und Bernstein, die sich dafür eingesetzt haben, dass Kratzenstein würdig beerdigt wird. Mit dem abstrakten Begriff "Menschlichkeit" habe Speckmann erst viele Jahre später etwas anfangen können, sagt er.
Gegen 23 Uhr - an einer von der Scharnhorststraße nicht einsehbaren Stelle - habe er das Loch gegraben. "Piefke", habe sein Chef ihm mit auf den Weg gegeben, "du brauchst gar nicht so tief ausheben". Denn: Die Grabtiefe für Juden ist niedriger als bei Christen, und der Sarg, in dem Siegmund Kratzenstein, in die Erde gelassen werden sollte, sei schlicht und ohne Dach gewesen. "Ich hatte Angst!", so Speckmann.
Reichsprogromnacht, 9. November 1938 - Siegmund Kratzenstein wird aus seinem Haus am Kastanienwall und vor die brennende Synagoge gezerrt, gepeinigt, verprügelt. Die Verletzungen, die ihm hinterher im Konzentrationslager Buchenwald zugeführt werden, überlebt er nicht. Nach seiner Entlassung stirbt er mit 62 Jahren in seinem Hamelner Haus. Es heißt, so Bernhard Gelderblom, im KZ habe man Kratzenstein den Buckel weggeprügelt.
An der heimlichen Beerdigung, einen Tag nach Ausheben des Grabes, nahmen nur wenige teil, erzählt Speckmann. Er selbst habe sich hinter Lebensbäumen versteckt und von dort aus die kurze Zeremonie beobachtet. Das Grab wurde zugeschüttet, ebenerdig, und ohne Kennzeichnung zurückgelassen.
Vor wenigen Tagen nun hat Rachel Dohme Kontakt zu den Nachfahren Kratzensteins in Australien aufgenommen, um mit ihnenüber das Aufstellen eines Grabsteins zu sprechen. "Ein dauerhaftes Gedenken an diesen Mann", sagt auch Gelderblom, "wäre wunderbar". Wenn die Verwandten ihre Einwilligung geben, soll auch der Platz bekannt gegeben werden, an dem Dr. Siegmund Kratzenstein, ? 28.11.1938, begraben liegt.
11./12.06.2005
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