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www.hiergeblieben.de , 08.06.2005 :

Übersicht

Veröffentlichungen am 08.06.2005

01.) Polizei Bielefeld:
Ravensberger Park - Videoüberwachung wird fortgeführt

02.) Radio Gütersloh:
(Türkei) Bei Informationsreise zu Rückkehr-Projekt / Anschlag auf Gütersloher Pfarrer

03.) WDR-Nachrichten aus OWL:
(Gütersloh/Türkei) Bombenanschlag auf Geistlichen

04.) Neue Westfälische:
Gütersloher Pfarrer überlebt Anschlag

05.) . Neue Westfälische:
(Gütersloh/Türkei) Pfarrer überlebt Anschlag / Autobombe in der Südtürkei explodiert / Rückschlag für das Heimkehrerprojekt

06.) Radio Hochstift:
Paderborner entkommt Bombenattentat

07.) www.hiergeblieben.de:
(Gütersloh/Türkei) Zum Hintergrund des Anschlages auf Ibrahim Gök, Dekan der Kattenstrother St. Marien-Gemeinde

08.) Neue Westfälische:
(Höxter) Stolpersteine erwünscht / Ausschuss empfiehlt Gesetz zur Korruptionsbekämpfung

09.) WDR-Nachrichten aus OWL:
Videoüberwachung wird verlängert

10.) Höxtersche Zeitung:
(Höxter) Im Grundsatz für die Steine / Erinnerung an jüdische Mitbürger

11.) Westfalen-Blatt:
(Bielefeld) Leitartikel / Frankreich-Woche der IHK / Dranzösisch klänge das viel schöner / Von Bernhard Hertlein

12.) Westfalen-Blatt:
(Bielefeld) Kommentar / Papst zur so genannten Homo-Ehe / Unerhörtes von Benedikt / Reinhard Brockmann

13.) Westfalen-Blatt:
(Bielefeld) Kommentar / Clements Brief / Ablenken vom Versagen / Dirk Schröder



Nachrichten vom 08.06.2005



Flucht / Rassismus

01.) Diakonie rät bei Abschiebung zu zivilem Ungehorsam / Unabhängige Kommission legt Bericht zum Umgang mit kranken Flüchtlingen vor / Menschenrechtsverletzungen in Kliniken

Knapp eineinhalb Jahre nach der Abschiebung der Tunesierin Suneya Ayari aus dem Frankfurter Markus-Krankenhaus hat eine vom Diakonischen Werk eingesetzte Untersuchungskommission ihren Bericht vorgelegt. Als Konsequenz aus dem Vorfall empfiehlt die Diakonie zivilen Ungehorsam.

Von Matthias Thieme

Frankfurt. Die "Abschiebung aus dem Krankenbett" im Februar 2004 sei leider kein Einzelfall, sagte Wolfgang Gern, Vorstandsvorsitzender des Diakonischen Werks Hessen und Nassau bei der Präsentation des Berichts. "Wir waren schockiert, dass das in einem unserer Krankenhäuser passiert ist, schockiert über das Vorgehen des Bundesgrenzschutz", so Gern. In einer Umgebung, in der der schwerkranken Tunesierin Hilfe zuteil werden sollte, sei "die Würde der Patientin verletzt worden".

Wie solche Menschenrechtsverletzungen bei Abschiebungen von kranken Flüchtlingen vermieden werden können, versucht die Kommission in ihrem ausführlichen Bericht darzulegen. Das Gremium hatte sich gebildet, nachdem die Frankfurter Rundschau über den skandalösen Abschiebefall berichtet hatte und eine Debatte über die Rolle von Ärzten bei der Begutachtung von kranken Flüchtlingen in Gang gekommen war. Unter dem Vorsitz des ehemaligen hessischen Innenministers Gerhard Bökel berieten die Juristen, Mediziner, Behördenvertreter und Kirchenleute über Handlungsleitlinien über den Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen.

Es gehe darum, "skandalöse Abtransporte von Schwerkranken aus Kliniken zu verhindern", sagte der Menschenrechtsbeauftragte der Landesärztekammer Hessen, Ernst Girth. Posttraumatische Belastungsstörungen und andere schwere psychische Krankheiten bei Flüchtlingen müssten ernst genommen und nicht als Trick zur Verhinderung der Abschiebung interpretiert werden. Bei der Beurteilung der "Reisetauglichkeit" müssten Ärzte nach den Richtlinien der Ärztekammer vorgehen und auch die Versorgungsmöglichkeit im Heimatland bedenken. Die Kommission fordert einen Pool qualifizierter Gutachter, die sich an solche Standards halten. Die Menschenrechtsverletzungen resultierten nicht aus der Gesetzeslage, sagte der ehemalige hessische Innenminister Gerhard Bökel. Das Problem liege in der Anwendung der Gesetze. Ausländerbehörden und Gerichte "arbeiten voller Misstrauen und unterstellen, dass Patienten simulieren", so Bökel. "Wo staatliche Stellen ihrer Verpflichtung zum Schutz der Menschenwürde nicht nachkommen, ist ziviler Ungehorsam legitim." Ärzte sollten in solchen Fällen von ihren Arbeitgebern geschützt werden.

Beim Diakonischen Werk werde ziviler Ungehorsam in solchen Fällen "nicht sanktioniert", sagte Jürgen Gohde, Präsident des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche in Deutschland. Das Diakonische Werk werde den Bericht jetzt in allen Bundesländern den zuständigen Ministerien und Behörden vorlegen, so Gohde. In Hessen sei dies der Integrationsbeirat und die Härtefallkommission des Landes, auf Bundesebene wolle man bei der Konferenz der Innenminister vorstellig werden.

Kommentar: Abschiebung / Kein Einzelfall

Von Matthias Thieme

Im Februar 2004 wurde die schwerkranke Tunesierin Suneya Ayari vom Bundesgrenzschutz gegen den Rat der behandelnden Ärzte aus dem Frankfurter Markus-Krankenhaus geholt und abgeschoben. Die FR machte den skandalösen Fall publik, eine Debatte über die Rolle von Medizinern und Gutachtern bei Abschiebungen kam in Gang. Das Diakonische Werk beauftragte daraufhin eine unabhängige Untersuchungskommission unter dem Vorsitz des ehemaligen hessischen Innenministers Gerhard Bökel.

Jetzt hat das Gremium aus Politikern, Juristen, Behördenvertretern und Kirchenleuten einen Bericht vorgelegt, der aufhorchen lässt. Abschiebungen wie die von Ayari sind kein Einzelfall, konstatieren die Experten und fordern einen Pool qualifizierter Gutachter. Kritisiert wird die "strukturelle Verantwortungslosigkeit" beim Umgang mit kranken Flüchtlingen.

Dass die Diakonie den Mut hat, ihren Mitarbeitern sogar den zivilen Ungehorsam ans Herz zu legen, ist beachtlich. Im Zweifel für das Wohl des kranken Flüchtlings, lautet die begrüßenswerte Parole. Ihr zu folgen, wird im Klinikalltag nicht immer einfach sein, wenn Patienten unter Polizeibewachung zu versorgen sind. Der Bericht sollte jetzt nicht als Absichtserklärung verstauben. Damit die Menschenwürde von Flüchtlingen nicht mehr so oft verletzt wird wie bisher.

Quelle: Frankfurter Rundschau



02.) "Mann richtet Messer gegen sich selbst – Großeinsatz der Polizei"

Dokumentation: 23.02 Uhr, Polizeidirektion Göttingen:

"Ossenfeld, Göttinger Straße
Mittwoch, 8. Juni 2005, 13.00 bis 18.35 Uhr

Ossenfeld (jk). Vermutlich um seiner drohenden Festnahme wegen eines gegen ihn bestehenden Abschiebehaftbefehls zu entgehen, hat heute Nachmittag in einem Wohnhaus in Ossenfeld (Kreis Göttingen) ein vermutlich türkischer Staatsangehöriger über mehrere Stunden ein Messer gegen sich selbst gerichtet und gedroht, sich umzubringen.

Zu dem dramatischen Einsatz kam es eher zufällig: Im Zusammenhang mit dem in den Mittagsstunden in einem Autohaus in Hann. Münden verübten Trickdiebstahl einer Digitalkamera, fahndete die Polizei aufgrund eines Zeugenhinweises nach einem mit drei Personen besetzten dunkelblauen Audi A4 mit GÖ-Kennzeichen. Die Halterfeststellung und weitere Ermittlungen führten die Ermittler schnell auf die Spur der Flüchtigen. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei einem der Tatverdächtigen um einen in Göttingen wohnenden Sohn des Türken.

Eine Funkstreife fand den gesuchten Wagen im Rahmen der Fahndung wenig später vor dem elterlichen Wohnhaus in Ossenfeld. Als die Beamten an der Haustür klingelten, entwickelte sich der eigentliche Einsatz anders als erwartet. Bei der angedachten Durchsuchung des Hauses nach der gestohlenen Kamera trafen die Beamten auf den mit Haftbefehl gesuchten Mann. Einige seiner Söhne verhinderten daraufhin die Festnahme ihres Vaters. In Anbetracht der angespannten Situation und um die Gesundheit des Mannes und der Familienmitglieder nicht zu gefährden, zogen sich die Ermittler zunächst zurück und forderten Verstärkung an. Kurz danach erschien der Türke mit einem an seinen Hals gerichteten Messer an einem der Fenster und drohte damit, sich umzubringen.

Auf der Straße vor dem Haus versammelten sich zwischenzeitlich ca. 30 bis 40 Personen der sog. linken Szene und taten ihren Unmut gegen die polizeilichen Maßnahmen sowie die geplante Abschiebung kund. Gegen 18.00 Uhr kam es zu einem Zwischenfall mit mehreren vor dem Haus stehenden Söhnen des Festzunehmenden. Dabei wurden drei Polizeibeamte verletzt, einer davon durch Tritte gegen den Kopf. Sie wurden in ein Krankenhaus eingeliefert.

Nach intensiven Gesprächen mit seinem Anwalt ließ sich der Mann nach knapp drei Stunden widerstandslos von der Polizei festnehmen. Er wurde in das Polizeigewahrsam eingeliefert. Vorsorglich alarmierte Spezialkräfte der Polizei kamen nicht zum Einsatz. Für die Dauer des Einsatzes wurde die Göttinger Straße für den Verkehr weiträumig abgesperrt."



Nationalsozialismus

01.) Bildungswerk der Humanistischen Union:
Werkstatt-Mail No. 21

Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren,

das Bildungswerk lädt auch 2005 ein zu einer Tagung

Werkstatt "Geschichtsarbeit und historisch-politisches Lernen zum Nationalsozialismus"

Das geplante Programm sieht in diesem Jahr so aus:

Donnerstag, 17.11.2005

Anreise bis 16.00 Uhr

16.00 Uhr: Begrüßung und Einführung

16.30 Uhr: Facetten regionaler Geschichtsarbeit im Westmünsterland und im deutsch-niederländischen Grenzraum – mit Dr. Norbert Fasse, Ingeborg Höting, Matthias M. Ester, Thomas Ridder – Moderation: Dr. Paul Ciupke

18.30 Uhr: Abendessen

20.00 Uhr: Historisch belastete Nachbarschaft: Die wechselseitige Wahrnehmung von Niederlanden und Deutschland von 1945 bis heute (Arbeitstitel) – Vortrag Prof. Dr. Friso Wielenga (Direktor des Zentraums für Niederlande-Studien/Universität Münster)

Freitag, 18.11.2005

9.00 - 12.30 Uhr: Exkursion zum "Markt 12-Museum" in Aalten/Niederlande - Besichtigung und Hintergrundgespräch zu den Ausstellungsthemen "Besatzung" und "Untertauchen" und dem pädagogischen Konzept des Hauses

14.30 - 18.30 Uhr: Workshops –zu den Themen

- Deutsch-niederländische Geschichte und Nachbarschaft in der Schule: Kritik von Schulbüchern, aktuelle Empfehlungen und neue Arbeitsmaterialien im Netz Mit Dr. Harald Fühner (Leer), N.N. - Moderation: Prof. Alfons Kenkmann

- "Die gute Führung" in Gedenkstätten – von der "Botschaft" zur Qualitätssicherung? Mit Christian Gudehus/Berlin und Annette Eberle/Dachau – Moderation: Susanne Abeck

- Digitalisieren was das Zeug hält? Über Sinn und Unsinn von Internetarchiven, Datenbanken und CD/DVD-Modulen für die regionalgeschichtliche Forschung und Bildungsarbeit. Mit Dr. Ralf Blank/Historisches Centrum Hagen, Dr. Stephanie Marra/Universität Dortmund – Moderation: Dr. Norbert Reichling

18.30 - 19.00 Uhr: Kurzberichte aus den Workshops

Samstag, 19.11.2005

9.00 - 11.30 Uhr: Projektebörse - Nachrichten und Projektporträts aus Initiativen, Vereinen und Gedenkstätten

11.45 - 13.00 Uhr: War der Hund echt? Das Geschichtsfernsehen des Guido Knopp - Vortrag von Boris Schafgans/Berlin

(Änderungen des Programm bleiben vorbehalten)

Tagungsort: Hotel Residenz, Kaiser-Wilhelm-Straße 32, 46395 Bocholt

Veranstalter: Bildungswerk der Humanistischen Union - Arbeitskreis NS-Gedenkstätten NRW - Forum Geschichtskultur an Ruhr und Emscher (mit Unterstützung der Landeszentrale für politische Bildung NRW)

Rückfragen und Anmeldungen bitte an:

Bildungswerk der Humanistischen Union
Paul Ciupke, Norbert Reichling
Kronprinzenstr.15
45128 Essen
Telefon: (0201) 22 79 82
Fax: (0201) 23 55 05
E-Mail: buero@hu-bildungswerk.de
Internet: www.hu-bildungswerk.de

Teilnahmebeitrag (einschließlich Übernachtung und Verpflegung):
- 85 Euro im Einzelzimmer
- 70 Euro im Doppelzimmer
- für Arbeitslose und StudentInnen 40 Euro
- bei Teilnahme ohne Übernachtung 40 Euro

Anmeldungen sind ab sofort formlos möglich.

Freundliche Grüße – Norbert Reichling

PS: "Werkstatt-Mail" informiert in unregelmäßigem Turnus über Projekte, Veranstaltungen, andere Ereignisse und Publikationen aus dem Bereich der historisch-politischen Bildungsarbeit, der Erinnerungskultur und der Gedenkstättenarbeit - vor allem in Nordrhein-Westfalen. Wenn Sie entsprechende Hinweise auf diesem Weg verbreiten wollen, senden Sie einfach einen Text von 10 - 20 Zeilen an die Absenderadresse.



02.) Kunst unter Lebensgefahr / Malen, um zu vergessen: Das Centrum Judaicum in Berlin zeigt "Kunst aus Auschwitz 1940 - 1945"

Dass in einem nationalsozialistischen Vernichtungslager Häftlinge die Möglichkeit besessen haben sollen, sich künstlerisch zu betätigen, ist schwer vorstellbar. Und doch war es so. In Auschwitz, dem Unvorstellbaren schlechthin, gab es sogar ein "Lagermuseum", das im Oktober 1941 auf Anordnung der SS eingerichtet wurde. Anfangs wurde hier Raubgut, das man den Deportierten an der "Rampe" abgenommen hatte, gesammelt und ausgestellt, Münzen, Medaillen, Orden, jüdische Zeremonialgegenstände. Im "Lagermuseum" war es einigen Häftlingen aber auch erlaubt, ihren künstlerischen Talenten nachzugehen.

Initiator war Franciszek Targosz, ein inhaftierter polnischer Maler, dem es dank seiner Begabung für Schlachtendarstellungen gelang, den Pferdenarren Rudolf Höß davon zu überzeugen, eine Künstlerwerkstatt einzurichten. Was den Lagerkommandanten bewog, Targosz' Vorschlag anzunehmen, ist unklar. Neben propagandistischen Zwecken - offiziellen Besuchern einen humanen Lageralltag vorzutäuschen - waren offenbar auch materielle Gründe ausschlaggebend. Die Häftlingskunst bot der Lagerleitung zusätzliche Erwerbsquellen.

140 von insgesamt etwa 1.500 Kunstwerken, Bestände aus der Sammlung des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau, sind jetzt im Centrum Judaicum in Berlin in einer beeindruckenden Ausstellung zu sehen. Wer das Glück hatte, dank seiner Begabung im "Lagermuseum" als Künstler unterzukommen, hatte bessere Überlebenschancen als die übrigen Häftlinge. Die Auftragskunst, die dort entstand, hatte sich allerdings Geschmack wie Anordnungen der SS unterzuordnen.

Subtile Perversion

"Gefangen" heißt die erste von insgesamt drei Abteilungen der Ausstellung, in der die legalen Werke zu sehen sind. Dazu gehören Gemälde, die die Erweiterungsbauten des Konzentrationslagers in einem monumentalistischen Stil darstellen, der dokumentiert, dass dem nationalsozialistischen Totalitarismus das heroische Bauwerk alles, die einzelnen, die es errichteten, nichts bedeuteten. Die Opfer hatten sich hier in einem subtilen Akt der Perversion gewissermaßen affirmativ selbst als Opfer darzustellen. "Gefangen" waren die Künstler in Auschwitz auf doppelte Weise. Wer auf Anordnung oder Bestellung malte, dokumentierte häufig heimlich auch den grausamen Lageralltag, die Drangsalierungen, Folterungen, Bestialitäten, die die Häftlinge durch das Wachpersonal zu erleiden hatten. Dieser illegalen künstlerischen Tätigkeit, deren Ausübung mit höchster Lebensgefahr verbunden war, macht den Großteil der Werke aus, die im Centrum Judaicum zu sehen sind.

Kunst war für die Künstler unter den Häftlingen ein Überlebensmittel. Wer unter den Bedingungen des alltäglichen Terrors malte und zeichnete, versuchte für eine Weile zu vergessen, was um ihn herum geschah. Am besten gelangen diese imaginären Fluchten denjenigen, die über ihre illegale künstlerische Tätigkeit hinaus Zutritt zum "Lagermuseum" besaßen. Dort schufen sie Bilder, die, selbst wenn sie in offiziellem Auftrag entstanden, in jedem Farbstrich versuchten, auch Gegenbilder zu schaffen. Idyllische Landschaften lieferten nicht allein die Möglichkeit, sich aus dem Lager mit Hilfe mehr oder weniger süßlicher Genredarstellungen hinauszuträumen, sondern waren zugleich auch Gegenbotschaften. Was motivisch der Blut-und-Boden-Ideologie des Nationalsozialismus entsprach, tritt in der malerischen Manier einer im Fin-de-Siècle entstandenen polnischen Nationalkunst auf. Wenn sich Adam Bowbelski mit hochgeklapptem Helmvisier porträtierte, erfüllte er zwar den Auftragswunsch der SS nach einem historistischen Genre, verweist hintergründig aber auch auf die Blütezeit des polnischen Rittertums.

Ganz anders die Porträts im Abschnitt "Gesichter", dem stärksten und beeindruckendsten der Ausstellung. Fast alles, was hier zu sehen ist, entstand unter Lebensgefahr, nicht nur für die Künstler, sondern auch für die dargestellten Häftlinge. Niemandem sollte es gestattet sein, den Opfern der NS-Vernichtungsmaschinerie Individualität, ihnen ein Andenken und Weiterleben im Bild zu verleihen. Tatsächlich besaßen die Porträts unterschiedliche Funktionen, sie dienten als Erinnerungsbilder, transportierten aber, wenn es gelang, sie aus dem Lager hinauszuschmuggeln, auch Botschaften des Dankes an Helfer jenseits des Stacheldrahts.

Intimes Verhältnis

Die in diesem thematischen Abschnitt labyrinthische Ausstellungsarchitektur zwingt den Besucher unmerklich, sehr nahe an die Porträts heranzutreten. Dadurch entsteht zwischen Betrachter und Bild ein äußerst intimes, fast unmittelbar direktes Verhältnis zu jeder einzelnen Häftlingsphysiognomie. Ein Ausweichen ist nicht möglich. Unter den Porträts stechen vor allem diejenigen von Mieczylaw Koscielniak hervor, einem der produktivsten legalen wie illegalen Künstler in Auschwitz, ebenso diejenigen von Stanislaw Gutkiewicz, der im Lager ermordet wurde. Eindringliche Kraft entwickeln aber auch Franciszek Jazwieckis Bleistiftporträts. Vor der Aura dieser kleinen Werke, Gesichter von Häftlingen aus ganz Europa, versagt jede noch so perfekte technische Reproduktion.

Der ebenso ausführliche wie instruktive Katalog weist darauf hin, dass im Gegensatz etwa zu den Selbstbildnissen des in Brüssel untergetauchten jüdischen Malers Felix Nussbaum die in Auschwitz entstandenen Porträts weder Symbole noch Metaphern besäßen. Für entwickelte Bildsprachen habe die lebensbedohende Realität eines Vernichtungslagers keinen Platz gelassen. Entstanden seien vielmehr geradezu abbildhafte Bildnisse, denen es allein um die möglichst realistische Darstellung des Einzelnen zu tun gewesen sei. Entzifferbar wird die Welt, die diese Gesichter gesehen haben, für den Besucher der Ausstellung aber auch im nachhinein nicht. In der Unentzifferbarkeit einer mit allen bekannten Realitäten unvergleichbaren Realität habe, so Primo Levi, das Vernichtungslager alles Vorstellbare übertroffen. Das sollte kein Besucher dieser Ausstellung vergessen.

Berlin: Centrum Judaicum: bis 14. August. Katalog, 400 Seiten, 200 Abb., rasch Verlag, in der Ausstellung 28 Euro.

Quelle: Frankfurter Rundschau (Thomas Medicus)


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