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Mindener Tageblatt ,
04.06.2005 :
(Minden) Bürger müssen Häuser im Sperrgebiet räumen / Ganzer Stadtteil mit Stacheldraht abgezäunt / Notunterkünfte und Zwangseinquartierungen auf engstem Raum
Minden (mt). Der Krieg war längst vorbei, da waren die Folgen für viele Mindener noch lange zu spüren. Bis weit in die Wirtschaftswunderjahre lebten sie in zugewiesenem Wohnraum - ihre eigenen Häuser lagen im Sperrgebiet.
Von Jürgen Langenkämper
"Am 11. Mai 1945, da mussten wir raus", erinnert sich Rolf Böchel noch ganz genau. Wenige Tage zuvor hatte die Familie die Aufforderung erhalten, ihr Haus in der Blumenstraße zu räumen. Dasselbe galt auch für die beiden Ehepaare, die als Mieter mit unter einem Dach wohnten.
Die Böchels hatten Glück im Unglück, denn als das Gerücht für eine Räumung umging, kamen Bekannte aus der Hahler Straße und luden sie geradezu ein, zu ihnen zu ziehen. "Sie hatten Angst vor der Zwangseinquartierung fremder Personen", sagt der heute 73-Jährige.
Auf eine Zwangseinquartierung durch die Stadtverwaltung war dagegen die Familie von Dieter Knobelsdorf angewiesen, die wenige Straßenzüge weiter in der Heidestraße lebte. Für kurze Zeit nur fanden Großeltern, Eltern und zwei Kinder Unterschlupf bei Bekannten in der Immanuelstraße. "Wir haben dann in der Bäckerstraße 6 gewohnt, über der Buchhandlung Marowsky", sagt Knobelsdorf, der damals in die Sexta des Besselgymnasiums ging.
Mit der Zwangsevakuierung und der Einzäunung des Sperrgebiets nahm auch sein Herumstromern auf dem Gelände der Artilleriekaserne ein abruptes Ende. Denn die Grenze verlief entlang der Herderstraße, auf der nördlichen Seite der Hahler Straße - die Fahrbahn konnten deutsche Passanten nutzen -, entlang der Besselstraße - die Hausbewohner konnten nur über den Gehweg in ihre Wohnungen gelangen -, an der westlichen Seite der Marienstraße entlang bis zum Bahnhof Oberstadt, der zugänglich blieb, und weiter über die Stiftstraße/Stiftsallee in Richtung Mittellandkanal bis zur Kohlstraße (heute Hermann-Schoppe-Straße), an der Drabertstraße entlang bis zur Ringstraße und dort bis zur Herderstraße.
In das Sperrgebiet durfte außer den Briten, die hier mit ihren Familien wohnten und die vielfach in der Militärverwaltung in den ebenfalls beschlagnahmten Melitta-Werken tätig waren, nur deutsches Dienstpersonal mit Sonderausweis. Zum Gebiet gab es nur drei Eingänge, wie sich Rolf Böchel erinnert.
Auch außerhalb der Sperrzone meldeten die Briten Raumbedarf an, so auch für das Mehrfamilienhaus in der Hahler Straße, in dem die Familie Böchel in nur zwei Zimmern, verteilt auf zwei verschiedene Wohnungen untergekommen war. Die Verhältnisse waren beengt. "In der Küche konnte man sich gegenseitig in den Topf gucken." Doch die Familie hatte erneut Glück und durfte als Hauptmieter ein paar Häuser weiter eine Wohnung übernehmen, aus der ein ehemaliger Berufssoldat auszog.
Bis 1950 blieben die Absperrungen erhalten, obwohl einige Häuser zwischenzeitlich gar nicht genutzt wurden und allein dadurch großen Schaden erlitten. Nach der Aufhebung des Sperrgebiets baute die Stadt für die so genannten Alt-Besatzungsverdrängten sowie für die die neu zugezogenen Mitarbeiter des Bundesbahnzentralamtes, Flüchtlinge und Vertriebene in der Neutorstraße neue Wohnhäuser. Dort zogen auch die Familien Böchel und Knobelsdorf 1952 ein.
In der Zwischenzeit waren Räumungsbefehle auch im Umland ergangen. Neben den Dörfern, die im Amt Windheim für Displaced Persons, vor allem ehemalige Zwangsarbeiter aus Polen, der Sowjetunion und Osteuropa eins um das andere nahezu komplett geräumt wurden (MT vom 16. April), war auch Meißen im Umfeld der Gneisenau-Kaserne betroffen. "Mein Elternhaus im Kronsbrink 6 und auch alle Nachbarhäuser wurden am 15. Juli 1946 von der Besatzungsmacht beschlagnahmt", berichtet Dieter Heinrichsmeier. In den Unterlagen seines Vaters Wilhelm Heinrichsmeier fand er nach dessen Tod unter diversen Aufzeichnungen sogar noch den Informationzettel, "der einen Tag vor der Besetzung meines Elternhauses meinen Eltern überreicht wurde". Dadurch erfuhren sie detailliert, welche Gegenstände sie mitnehmen durften. Alles Mobiliar war in den Häusern zurückzulassen.
"Wir haben unsere Möbel nicht wiederbekommen", bedauert Rolf Böchel den Verlust. Denn deutsche Zivilbeschäftigte der Briten haben die Möbel häufig je nach Bedarf zwischen den Häusern hin und her und manchmal ganz abtransportiert. Hier hatte die Familie Knobelsdorf mehr Erfolg. Denn bei Räumung einzelner Straßenzüge durften die ehemaligen Bewohner unter den in der Marienwallkaserne ausgestellten Möbelstücken suchen, ob sie ihr Eigentum wiederentdecken könnten. Erst 1956 konnten beide Familien wieder in ihre alten Häuser einziehen.
04./05.06.2005
mt@mt-online.de
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