|
Westfälisches Volksblatt ,
04.06.2005 :
1945 - Paderborn fängt neu an / WV-Serie: Folge 3 / Größte Not nach Kriegsende gelindert / Paderborner Caritas-Hilfswerk 1945 gegründet - Pater Diederich als Motivationskünstler
Paderborn (WV). Paderborn im Frühjahr 1945: Die Stadt lag nach verheerenden Bombenangriffen in Schutt und Asche. Am 16. April rief Erzbischof Lorenz Jaeger den Stadtklerus in die noch intakten Gemeinderäume der Pfarrei St. Georg zusammen und erklärte: "Wir müssen irgend etwas tun, um dieser Not Herr zu werden."
Der Geistliche erkannte, dass eine ganz neue karitative Struktur aufgebaut werden musste, um auf das Massenphänomen Hunger, Armut und Obdachlosigkeit reagieren zu können. Und so wurde in St. Georg das Caritas-Hilfswerk Paderborn gegründet. Erzbischof Jaeger ernannte den 35-jährigen Jesuitenpater Franz-Josef Diederich aus Dortmund zu dessen erstem Direktor.
Diederich war ein Organisations- und Motivationskünstler, der mit seinen sprudelnden Aktivitäten viel bewegte und gerade deswegen als "ein wenig nervender Sohn des heiligen Ignatius" in Erinnerung geblieben ist. Der Jesuit schaffte es, innerhalb seiner kurzen Amtszeit bis März 1946 mit Hunderten von ehrenamtlichen Helfern ein breit gefächertes Hilfesystem für unterschiedliche Zielgruppen zu schaffen.
Helferin Marietheres Potthoff berichtete 1946: "Ich muss immer wieder an eine Frau denken, die ihr achtes Kind erwartete, deren Mann noch nicht wieder zurück war. Mit ihren sieben Kindern war sie nur in einem Raum untergebracht, wo nachts Ratten und Mäuse aus- und eingingen, ja sogar ihre Kinder anfraßen. Sie hatte bei dem Angriff nichts retten können, weil sie sich um ihre Kinder hatte kümmern müssen."
Die Zentrale des Caritas-Hilfswerkes befand sich zunächst in der Friedrichstraße 33. Das Haus war ständig von Bittstellern belagert. Die Mitarbeiter standen einer Massennot gegenüber, für deren Behebung es kein historisches Beispiel gab; alles musste improvisiert werden. Ab Oktober 1945 stand als Caritas-Haus die Heiersburg zur Verfügung, die von einem Caritas-Werktrupp mühsam hergerichtet worden war.
Dass überhaupt Lebensmittel, Kleidung und andere Hilfsgüter verteilt werden konnten, ist Diederichs Bettelpredigten im Umland zu verdanken. In 150 Predigten rief der Jesuit Sonntag für Sonntag zum Teilen mit der Paderborner Bevölkerung auf. Die Aufrufe reichten für 6.500 Pakete für die Notleidenden der Stadt. In sieben Volksküchen wurden bis März 1946 mehr als 600.000 Mahlzeiten ausgegeben. Große Verdienste erwarb sich hierbei das Gastwirt-Ehepaar Heinrich und Toni Große-Perdekamp, das mit Pater Diederich befreundet war.
Da viele Paderborner nur das hatten retten können, was sie am Leibe trugen, hatte die Versorgung mit Kleidung und Wäsche besondere Bedeutung. In den sechs Nähstuben des Hilfswerkes nähten und flickten durchschnittlich 200 ehrenamtlich tätige Frauen und Mädchen. Um Kinder aus den Kellerbehausungen herauszuholen, richtete Diederich fünf Kindergärten ein, zum Teil aus ehemaligen Baracken gebaut. Gleichzeitig sorgte er für Erholungsmaßnahmen im Umland.
Der Strom der umherziehenden Menschen, seien es Ausgebombte, Heimkehrer oder Flüchtlinge, riss auch in Paderborn nicht ab. An der Elsener Straße richtete das Caritas-Hilfswerk ein Übernachtungsheim für ehemalige Soldaten ein. Allein im August 1945 beherbergte und betreuten die Mitarbeiter mehr als 1.100 deutsche Soldaten, die aus dem Kriegsgefangenenlager Rheinberg entlassen worden waren. Legendär ist eine Paketaktion, zu der Diederich an Weihnachten 1945 die weibliche Pfarrjugend aufrief. Mehr als 12.000 Päckchen erreichten die Kriegsgefangenen im Lager Eselsheide.
Caritas-Weihnachtstüten erhielten 1945 auch 4.500 Paderborner Kinder. Die Weihnachtsfeiern fanden an ungewöhnlicher Stelle statt: In der ehemaligen Konfektionsabteilung des Textilhauses Klingenthal hatte der Bautrupp des Caritas-Hilfswerkes eine Wärmehalle eingerichtet, in der sich in den Wintermonaten bereits mittags bis zu 200 Personen aufhielten. Die Caritas-Baugruppe sorgte auch dafür, dass im Keller der Heiersburg eine Übernachtungsstelle entstand, in der bis 1946 fast 34.000 durchreisende Zivilisten beherbergt werden konnten.
Wichtig war Pater Diederich auch die Beseitigung des "geistigen Schutt- und Trümmerfeldes". Um die "Grundlagen für einen geistigen Wiederaufbau" zu legen, war er Mitbegründer des Volksbildungswerkes, das unter anderem in der Caritas-Wärmhalle für Konzerte, Vorträge und Dichterlesungen sorgte. Diederich war zuletzt Pfarrer in Bremen und starb bereits 1957.
04./05.06.2005
redaktion@westfaelisches-volksblatt.de
|