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Neue Westfälische ,
01.06.2005 :
(Rheda-Wiedenbrück) Die "104.946" bleibt stets ein Teil seines Lebens / Hermann H. überlebte Auschwitz, doch auch 60 Jahre nach dem Holocaust verspürt er immer noch Angst
Von Marion Pokobra-Brockschmidt
Rheda-Wiedenbrück. Am 1. Juni 1945 schloss Hermann H. (Name von der Redaktion geändert) die Zeit, die er im Konzentrationslager Auschwitz zugebracht hatte, vorerst ab: "Ich war frei, das war abgeschlossen", sagt der heute 81-Jährige. Doch so ganz stimmt das nicht, denn noch immer traut er sich nicht, öffentlich ein Bild des Nazi-Terrors aus der Sicht eines Überlebenden zu zeichnen. Die Angst sitzt H. auch 60 Jahre nach seiner Heimkehr nach Rheda weiterhin im Nacken.
Zu den Befreiten von Auschwitz gehört H. nicht. Im Januar 1945 wurde er von den Nationalsozialisten mit anderen Gefangenen auf eine grausame Odyssee geschickt, zu deren Stationen auch das Konzentrationslager Oranienburg gehörte. Das Ende seines Martyriums erlebte er in Wetterfeld in der Oberpfalz, wo er von Amerikanern befreit wurde. Von dort aus machte er sich auf den Heimweg.
Während seines Fußmarsches nach Westfalen durfte er in Regensburg im Haus einer netten Familie übernachten. "Am Morgen erzählte mir die Tochter: 'Wir haben gar nicht geschlafen, weil wir uns das nicht vorstellen konnten, mit einem, der aus dem KZ kommt.'" Also erzählte der damals 21-Jährige, auf seine fehlenden Haare angesprochen, fortan, dass er aus Russland komme. Diese Verschlossenheit behielt H. bis heute bei.
Egal, wie heiß es in den vergangenen sechs Jahrzehnten war, H. entblößte nie seinen linken Unterarm. Er verbarg immer die große, dort eintätowierte Häftlingsnummer 104.946, wollte nicht nach der Zeit in Auschwitz gefragt werden, hatte Angst vor Stänkereien. Die musste er später dennoch über sich ergehen lassen: "Es sind überall viele Alt-Nazis wieder eingestellt worden. Es wurde ihnen wohl vergeben.“
Das Gefühl hatte H. auch als er Mitte der 50er Jahre in dem Prozess gegen SS-Hauptscharführer Bernhard Rakers in Osnabrück aussagte. Jede seiner Aussagen habe der Verteidiger auseinander gepflückt, wie einen Schwindler habe er H. behandelt. "Der hat versucht, aus einem Verbrecher ein Opfer zu machen", war die bittere Erkenntnis des Holocaust-Überlebenden. Hass empfindet der 1924 in Dortmund Geborene dennoch nicht.
Seine Mutter war jüdischen, sein Vater katholischen Glaubens. H. wurde 1924 getauft, galt aber nach den Rassegesetzen der Nationalsozialisten als "Mischling ersten Grades". 1943 wurde er nach Auschwitz deportiert. Da war seine Mutter, eine gebürtige Rhedaerin, vermutlich schon ermordet worden. Sie hatte sich in einer leeren Straßenbahn hingesetzt, was ihr als Jüdin streng verboten war. Vier Wochen kam sie dafür ins Gefängnis. 1942 wurde sie nach Riga deportiert. "Ich habe nie wieder von ihr gehört."
Auch seinen Bruder töteten die Nazis: "Er trug den Judenstern und wurde wegen Missachtung der Ausgangssperre verhaftet - er blieb zu lange im Luftschutzbunker", erzählt H. Er erfuhr später, dass sein Bruder in Mauthausen auf der Flucht erschossen worden sei.
H. selbst habe die zwei Jahre im KZ Auschwitz III überlebt, "weil wir früh an hartes Arbeiten gewöhnt waren, nachdem mein Vater uns verlassen hatte", meint er. "Und ich hatte wohl viel Glück." Noch heute kommen ihm die Tränen, sieht er, "wie die Menschen misshandelt wurden". Als er vor einigen Jahren erstmals nach Auschwitz kam und "die abgeschnittenen Haare, die Koffer, die Zyklon-B-Dosen und die Galgen sah, habe ich geheult wie ein Schlosshund".
Jüngst hat H. Schülern trotz anfänglichen Unbehagens von seinem Schicksal berichtet - und war angenehm von den guten Gesprächen überrascht. Um junge Menschen dauerhaft gegen nationalsozialistisches Gedankengut zu immunisieren, würde der 81-Jährige, hätte er das Geld, "mit ihnen allen nach Auschwitz fahren, damit niemand mehr sagen kann, dass es den Holocaust nicht gab".
Auschwitz
Auschwitz war das größte nationalsozialistische Konzentrationslager. Dazu gehörten das Stammlager, 1940 auf Befehl von Heinrich Himmler erbaut; das Vernichtungslager Birkenau, erbaut 1942, und das Arbeitslager Auschwitz III, errichtet ab 1942. Schätzungen gehen von 1,2 bis 4 Millionen in Auschwitz ermordeten Menschen, vor allem Juden, aus. Das KZ wurde zum Symbol von Terror und Völkermord.
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