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Tageblatt für Enger und Spenge / Neue Westfälische , 30.05.2005 :

Gemeinsame Erinnerungen / NW-Serie zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges / Günter Pühse und Karl-Heinz Gieselmann

Von Klaus Frensing

Enger. Am 8. Mai 1945 endete offiziell in ganz Europa der Zweite Weltkrieg. In einer Serie läßt die NW daher seit einigen Wochen schon Zeitzeugen zu Wort kommen, die sich noch persönlich an diese Tage und Wochen vor 60 Jahren erinnern können. Heute erzählen Karl-Heinz Gieselmann und Günter Pühse aus dieser schweren Zeit.

Karl-Heinz Gieselmann und Günter Pühse sind seit 65 Jahren Freunde. "Wir sind in Besenkamp aufgewachsen, zusammen zur Schule gegangen, haben gemeinsam Fußball gespielt und haben letztendlich auch beide einen Beruf im Baugewerbe ergriffen", sagen sie . Günter Pühse als Dipl.-Ing.-Architekt, Karl-Heinz Gieselmann als Dipl.-Ing. im Brücken- und Straßenbau. Das Kriegsende haben die beiden Freunde in Besenkamp erlebt. Und das obwohl der ein Jahr ältere Gieselmann nicht mehr zu Hause wohnte, sondern in Petershagen die Lehrerbildungsanstalt besuchte.

Bereits im jungen Alter von 15 Jahren und drei Monaten wurde der Besenkämper in die feldgraue Militäruniform gesteckt. Er absolvierte die "vormilitärische Ausbildung" in einem "Wehrertüchtigungslager" auf dem Truppenübungsplatz in Nammen bei Bückeburg.

"Deuschlands letzte Hoffnungsträger" lernten das Kriegshandwerk mit dem Maschinengewehr, mit Handgranaten, Mörsern und Flammenwerfern und erhielten in der Mudra-Kaserne eine Panzerfaust- und Panzerschreckausbildung an ausgedienten Panzern.

Am 12. März 1945 erfolgte die Anmeldung als Dienstpflichtiger bei der polizeilichen Meldebehörde des Amtes Petershagen. Dorthin hatte man die Lehrerbildungsanstalt Lerbeck an der Porta verlegt.

In Porta Westfalica konnte Gieselmann ein KZ-Arbeitslager beobachten

In Porta im "Großen Kurfürsten", unmittelbar am Tunneleingang zu den unterirdischen Werken gelegen, konnte Gieselmann Tag für Tag beobachten, wie KZ-Häftlinge von Wachsoldaten und Kapos über die Hängebrücke zur Fronarbeit geführt wurden. "Das KZ-Arbeitslager war im Kaiserhof an der Westseite der Weser unterhalb des Kaiser-Wilhelm-Denkmals", erinnert sich der Besenkämper. Das Werk wurde zusehends Ziel alliierter Luftangriffe. Ende 1944 entschloss man sich, die Bildungsanstalt nach Petershagen umzusiedeln.

In Petershagen war er ebenfalls Zeitzeuge unfassbarer Ereignisse. Häftlinge des KZ-Arbeitslagers Lahde, die bei Bauarbeiten am Kraftwerk Lahde umgekommen waren, wurden in Häftlingskleidung im offenen, rund zwei Meter langen Holz-Bollerwagen, der von anderen KZ-Häftlingen unter Bewachung gezogen werden musste, mit der Fähre über die Weser nach Petershagen überführt.

Die latente Gefahr aus der Luft bekam auch Günter Pühse im beschaulichen Besenkamp zu spüren. Eine Bombe von einem angeschossenen amerikanischen Bomber explodierte in der Nähe der Schule auf dem "Winkelhof": "Wir mussten zu unserem Schutz zwei Meter tiefe Splittergräben auf dem Schulhof an der Friedrichstraße ausheben. Die Jagdbomber schossen auf alles, was sich bewegte", sagt er heute.

Der Schüler musste – wie alle seine Freunde – den Bauern auf dem Feld helfen. Wegen der Gefahr aus der Luft wurde meistens nur früh morgens und spät abends gearbeitet. "Im achten Schuljahr haben wir nicht mehr viel gelernt", sagt er rückblickend. Stattdessen standen Heilkräuter sammeln und Kartoffelkäfer einfangen auf dem Stundenplan.

Bereits am 20. März war Gieselmann gemustert worden. Er bekam seinen Wehrpass beim Wehrmeldeamt in Minden ausgehändigt. Als "kriegsverwendungsfähig" eingestuft kam der 15-Jährige zur Luftwaffenersatzreserve I und erhielt die vorläufige Annahme als ROB (Reserveoffiziersbewerber). Seine Segelflieger-A-Prüfung hatte er bereits 1944 abgelegt. Zum Fronteinsatz aber kam er nicht mehr. "Einige andere des Jahrgangs 1929 hatten weniger Glück. Rolf Klinge aus Enger zum Beispiel verlor sein junges Leben in den letzten Kriegstagen. Mein Schwager Heinz Hollmann wurde verwundet", erzählt Karl-Heinz Gieselmann.

Die Panzersperre am Dorfkrug war noch schnell beiseite geräumt worden

Das Kriegsende erlebte er zu Hause bei seiner Mutter und seinen Geschwistern in Besenkamp. Der Vater war als Soldat vermisst. Über Ostern hatten die Absolventen der Lehrerbildungsanstalt "Heimaturlaub". Und am Dienstag nach Ostern, am 3. April 1945, fuhr bereits eine amerikanische Fronteinheit durch Enger.

"Die Panzersperre in Höhe des Dorfkruges war noch schnell beiseite geräumt worden", erinnert sich Günter Pühse. Damit war der Krieg für die Engeraner beendet. "Ich bin dann auch gar nicht mehr nach Petershagen zurück gekehrt", sagt Gieselmann.

Wenige Tage später durchsuchte eine amerikanische Nachschubeinheit die Häuser nach versteckten wehrdienstfähigen Männern und Nationalsozialisten. "Einige Männer wurden an der Ecke Bünder Straße/Wellensiekstraße auf amerikanische Militär-Lkw verladen", erinnert sich Karl-Heinz Gieselmann.

Er selbst hatte auf Anraten seines Großvaters rechtzeitig die feldgraue Uniform abgelegt und wieder eine kurze Hose angezogen. Günter Pühse dagegen, für sein Alter sehr groß, wurde erst einmal festgehalten und auf einem Kastenwagen zum Rathaus transportiert. Dort wurden seine Angaben zur Person überprüft. Der 14-Jährige kam aber wieder frei.

"Die Stadtverwaltung war damals relativ schnell wieder funktionsfähig", unterstreicht Karl-Heinz Gieselmann den Schritt in die Normalität auf dem Weg zum sogenannten "Wirtschaftswunder". "Ich persönlich habe mich am 11. April wieder auf dem Amt in Enger angemeldet."

Ansonsten aber ging doch noch vieles drunter und drüber. Französische Kriegesgefangene und polnische Zwangsarbeiter kehrten in ihre Heimat zurück, manche Franzosen machten sich sogar mit dem Fahrrad auf den weiten Weg nach Hause. "Die meisten waren überwiegend freundlich gesinnt, manche hegten aber auch Rachegelüste wegen der erlittenen Schikanen", erinnern sich die beiden Freunde. In Besenkamp wurde ein Mann erschossen, in Siele ein weiterer in beide Beine getroffen.

Da die Schule in diesem Sommer eine lange Auszeit nahm, fingen die beiden Freunde am 8. und am 9. Mai ihre Laufbahn im "Baugewerbe" an. Martin Otting, ein Maurerpolier aus der Nachbarschaft hatte ihnen die Arbeit vermittelt. In Herford beseitigten sie mit vielen anderen gemeinsam Bombenschäden, klopften Mörtel von den Steinen oder luden losen Zement vom Waggon auf Handkarren und tüteten den staubigen Baustoff ein.

Angst vor der Rache der ehemaligen polnischen Zwangsarbeiter

Auf der täglichen Fahrt zur Arbeit mit dem Fahrrad hatten die drei ein unvergeßliches Erlebnis. "Am 10. Mai war es, als morgens gegen sieben Uhr kurz vor der Unterführung in Herford ein Zug auf dem Bahndamm hielt. Heraus strömten ehemalige polnische Zwangsarbeiter, erkennbar an rot-weißen polnischen Symbolen, die auf dem Weg in ihre Heimat waren. Sie rissen Martin Otting vom Fahrrad, hielten ihm eine Pistole vor die Brust und rissen ihm die Uhr vom Handgelenk", erzählen die beiden Freunde. Ansonsten aber sei zum Glück nichts passiert. "Wir blieben alle unverletzt. Die Angst aber steckte noch lange in unseren Knochen", sagt Gieselmann.

"Mit Martin Otting hatten die Zwangsarbeiter aber einen vollkommen unschuldigen Mann erwischt", sind Karl-Heinz Gieselmann und Günter Pühse noch heute überzeugt. "Er hatte nämlich bis kurz vor Kriegsende als kriegsverpflichteter (UK – unabkömmlich) Maurerpolier teilweise Seite an Seite mit KZ-Häftlingen des Arbeitslagers Porta beim Bau des Werkes unter dem Jacobsberg arbeiten müssen. Als gutherziger Mensch hatte er – wie übrigens auch andere Baufachleute der Herforder Firma "Gresselmeyer & Essmann –in unbewachten Augenblicken sein Frühstücksbrot liegen gelassen für die stets hungrigen und völlig ausgemergelten KZ-Häftlinge. Das hatten Otting und andere Maurer ihren jungen Helfern in den Tagen auf dem Bau während der Arbeitspausen mehrfach erzählt. Daran können sich Karl-Heinz Gieselmann und Günter Pühse noch heute erinnern, wenn sie zusammensitzen und 60 Jahre zurückdenken.


lok-red.enger@neue-westfaelische.de

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