Neue Westfälische ,
26.05.2005 :
Aus dem Alltag des Grauens / Marianne Webers Berichte von Frauen auf der Flucht
Von Manfred Strecker
Oerlinghausen/Bielefeld. "Die Russen kommen!" Die Furcht, berechnend zur Panik geschürt von der Goebbels-Propaganda, war nicht ohne Grund. 60 Jahre nach Kriegsende kommen Leid und Not auch von Flucht und Vertreibung zur Sprache.
Die aus Oerlinghausen stammende Frauenrechtlerin und Soziologin Marianne Weber (1870 - 1954) wollte schon Anfang der 50er Jahre Erfahrungsberichte von Frauen aus dem Osten veröffentlichen. Ein Verlag fand sich damals nicht.
Die beeindruckende Sammlung ist jetzt im Bielefelder Aisthesis-Verlag unter dem Titel "Frauen auf der Flucht" erschienen. Herausgegeben wurde der Band vom Marianne-Weber-Institut in Oerlinghausen, das sich der Erforschung und Vermittlung des Werks von Marianne Weber widmet; im Vergleich zu dem ihres Ehemanns, Max Weber (1864-1920), eine Gründungsfigur der deutschen Soziologie, findet es weniger Beachtung.
Deutsche Frauen als Gewalt-Opfer der Sieger? Trotz des Unrechts, das ihren Zeitzeuginnen widerfuhr, hat Marianne Weber publizistisch Vorkehrungen gegen falsche Aufrechnungen getroffen. "Was die Deutschen als Sieger gesündigt haben, wurde von diesen Menschen im Osten gebüßt", schreibt sie in ihrer Einleitung.
Dort zitiert sie auch den SS-Generalmajor Jürgen Stroop aus Detmold, der in seinem detailgetreuen Bericht von der von ihm geleiteten Vernichtung des Warschauer Ghettos stolz meldet: "56.000 Juden wurden erfasst und nachweislich vernichtet." Schließlich beginnt die Sammlung selbst mit einer Erlebnisschilderung der polnischen Kunsthistorikerin Karolina Lanckoronska, die im KZ Ravensbrück gefangen gehalten wurde.
Was die Frauen erzählen, imponiert durch Authentizität, ihre Erinnerungen sind bald nach den Ereignissen und nicht erst Jahre später niedergeschrieben worden. Ihre Berichte geben bestürzende Einsichten in einen Ausnahmezustand, in dem das Willkürrecht der Sieger herrscht, allenfalls der Appell an Menschlichkeit gelegentlich gefährliche Situationen entschärfen und manche List die Gefahr abwenden hilft. Höchste Not, Lebensgefahr, Bedrohung stehen neben der unverhofften Chance, entkommen zu können. Aber auch im Grauen richtet sich erstaunlich Alltag ein, gibt es Momente selbstvergessenen Glücks und manche Skurrilitäten.
Die dreizehn Berichte - vier hatte die mit Marianne Weber befreundete Publizistin Dorothee von Velsen beigebracht - trugen ursprünglich den Titel "Schicksalssammlung". Sie ruhten unter den Materialien des Weber-Nachlasses nahezu vergessen im Münchner Staatsarchiv. Dort hatte sie der emeritierte Bielefelder Soziologe und Mitgründer des Marianne-Weber-Instituts, Richard Grathoff, nach einem Hinweis von Marianne Webers Sohn Max Weber-Schäfer aufgefunden.
Marianne Weber: Frauen auf der Flucht. Aus dem Nachlass von Max und Marianne Weber. Hrsg. vom Marianne-Weber-Institut. Aisthesis, 378 S., 24.80 Euro.
26./27.05.2005
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